Benutzer:Etz/Direkte Demokratie und Religionsfreiheit

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Vorlage:Diskussion

Schweizer Minarette, direkte Demokratie und kein Ende

Für die Diskussion um den Konflikt zweier Grundideale und die angemessene öffentliche Positionierung der Piraten sind verschiedene Einzelaspekte zu betrachten:

1. Der Konflikt zwischen dem Menschenrecht der Religionsfreiheit und der Errungenschaft direkter Demokratie

2. Die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten in der Schweiz

3. Der schändliche Opportunismus

4. Die notwendige Positionierung der Piratenpartei in diesem grundlegenden Konflikt und im politischen Umfeld der BRD

Pikant wird die Causa noch dadurch, dass die Schweiz in diesen Tagen den Vorsitz in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats übernimmt. Das erinnert in fataler Weise an den russischen Vorsitz in diesem Gremium just zu der Zeit, da in Moskau (im Jahr 2006) eine Demonstration für die Rechte von Homosexuellen mit internationaler Beteiligung von den russischen staatlichen Organen dem geistlichen und weltlichen homophoben Mob ausgeliefert wurde.

Menschenrechte versus direkte Demokratie

Nein - bei Licht besehen gibt es hier keinen unauflösbaren Konflikt, auch dann nicht wenn man bedenkt, dass manche opportunistischen Schreihälse hierzulande gern einen finalen Todesstoß gegen die direkte Demokratie führen möchten.

Versagt haben im Vorfeld Schweizer Bundesrat (Regierung) und Parlament. Ihnen hätte es oblegen, die Zulässigkeit der Initiative zu prüfen. Das ist offensichtlich nicht im notwendigen Maß geschehen. Diese Prüfung hätte nicht nur die innerschweizer Prüfung umfassen müssen, sondern auch das Konfliktpotential zwischen innerschweizer Recht und internationalen Menschenrechtskonventionen.

Die Abstufungen des Rechts - Betrachtungen zur Verfassungsrechtslage in der Schweiz

Bei allein immanenter Betrachtung der Schweizer Rechtsgrundlage hat die erfolgreiche Initiative als "lex specialis" Vorrang vor dem allgemeinen Prinzip der Religionsfreiheit - der Bau neuer Minarette wäre erfolgreich verboten, denn beide Normen haben Verfassungsrang. Doch die Schweiz ist Mitglied des Europarats (Europäische Menschenrechtskonvention). Damit setzte sich die Initiative in einen Gegensatz zum international verankerten Prinzip der Religionsfreiheit. Hier kann das Verbot des Baus von Minaretten nicht als "lex specialis" durchgreifen, da der internationale Menschenrechtsschutz dem nationalen Verfassungsrecht übergeordnet ist. Um hier dem internationalen Recht zur Geltung zu verhelfen, reicht ein einziges Bauprojekt für eine Moschee mit Minarett, um in letzter Instanz den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anzurufen und die gerade erst eingeführte Verfassungsbestimmung dem Verfassungspapierkorb zu überantworten. Um hier dem antiislamischen Schweizer Volkswillen wirksam Ausdruck zu verleihen, hätte die Initiative zugleich den Austritt aus dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Abstimmung bringen müssen und wäre damit wohl chancenlos gewesen.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik gibt es in der Schweiz keinen eigenen Verfassungsgerichtshof. Das beweist sicher zuerst das Vertrauen des Schweizer Souveräns in die Weisheit seiner politischen Willensbildung. Wie bei den düpierenden Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Ignoranz und Untätigkeit des Bundestags zu europäischen politischen Beschlüssen zeigt sich allerdings, dass auch das Schweizer Grundvertrauen in die politische Willensbildung gelegentlich Leck schlagen kann.

Die Verführung und die intransigenten opportunistischen Ziele

Offensichtlich lagen der Initiative nicht nur vordergründig erkennbare Ziele zugrunde. Es ging zweifelsfrei zugleich um ein Votum gegen den Islam und insofern um einen modernen Religionskrieg. Wie man verschiedenen Veröffentlichungen entnehmen konnte, ballten sich da verschiedene Motivationen zusammen, von altfaschistischen Auffassungen bis zu neufeministischen Argumentationsketten. Es ist hier nicht der Platz, diese Auffassungen in allen Einzelheiten zu würdigen. Sie sind in jedem Fall Ausdruck unzulässiger Verallgemeinerung und geschichtlicher Blindheit. Es muss darüber hinaus festgehalten werden, dass die berechtigten Anliegen, die zum Teil hier eingewoben waren, einer anderen Form der Debatte bedurft hätten, als einer "Doppelpass-Postkarten-Aktion" unseligen hesslichen Angedenkens.

Zugleich gilt es festzuhalten, dass auch die etablierten politischen Kräfte der Schweiz, die dem vorurteilsbehafteten Treiben hätten entgegentreten können, den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs unterlassen haben.

Demokratie ist - meiner Meinung nach - zu mindestens 70 % Volkshochschule. Das vergessen die politischen Akteure leider viel zu oft. Und wer jetzt der Meinung ist, der Begriff "Volkshochschule" sei abwertend, offenbart nur das eigene demokratische Defizit. Die Arbeiterbildungsvereine des frühen 19. Jahrhunderts, die "Urania" hier in Berlin und die Volkshochschulen sind ihrer Geschichte und ihrem Ansatz nach zutiefst demokratische und demokratiefördernde Einrichtungen. Es entspricht der Perversion totalitären Denkens, sie unter Propaganda-Verdacht zu stellen und ihr Ziel, zum "Selber-Denken" zu befähigen, gering zu achten.

Ja, es ist notwendig, die Segregation von Migranten in fundamentalistisches Religionsempfinden in einem gesellschaftlichen Diskurs zum Thema zu machen. Notwendig ist dafür aber die Offenheit der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft, kulturelle Differenzen zu ertragen und für die Weiterentwicklung der Gesellschaft nutzbar zu machen.

  "Wer heute mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die
  vermeintlich Verantwortlichen zeigt, sollte bedenken, dass an der Hand mit 
  dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei Finger auf ihn selbst
  zurückweisen." Bundesjustizminister Gustav Heinemann, 1968

Es ist kein Zufall, dass heute diejenigen am lautesten über das Entstehen von Parallelgesellschaften klagen, die in dem halben Jahrhundert der Arbeitsimmigration aus den Mittelmeerländern die geringsten Anstrengungen unternommen haben, die gesellschaftlichen Probleme dieser Migration zu erkennen und Lösungswege dafür zu suchen.

Resumé - auch für die bundesdeutsche Debatte:

Direkte Demokratie ist sinnvoll und eine Bereicherung des Staates. Sie setzt einen offenen und verantwortungsvollen gesellschaftlichen Diskurs voraus und fordert von den gesellschaftlichen Kräften die Fähigkeit und das Engagement zu redlicher Argumentation. Elemente vermeintlich "direkter Demokratie" als Placebo schaden den demokratischen Strukturen und ihrer Legitimation.

Religionsfreiheit ist ein wichtiges Freiheitsrecht in einem auf die Menschenrechte gegründeten Staatswesen. Die gegenläufigen Freiheiten zur Religionsausübung und von religiöser Bevormundung gilt es sorgsam auszutarieren. Das gilt umso mehr, als das segregative Element jeglicher Religion gesellschaftszerstörende Formen annehmen kann. etz Zastrau]] 20:07 Uhr (MEZ) 2009-12-07

Hinweise und Links