Benutzer:Tomtar/Entwuerfe/Schatzmeistererfahrungen/bongs2012 Nachlese/

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"Democracy is not freedom. Democracy is two wolves and a lamb voting on what to eat for lunch. Freedom comes from the recognition of certain rights which may not be taken, not even by a 99% vote." [Marvin Simkin (1992), fälschlich oft Benjamin Franklin zugeschrieben]


Bongs, ständige Mitgliederversammlung und die Zukunft der Parteitage - eine Analyse

TL;DR

Eine Analyse der Situation ergibt folgende Probleme: Eine unrealistisch hohe und zudem ständig weiter steigende Anzahl eingereichter Anträge, eine eventuell ausbaufähige Beteiligung der stimmberechtigten Mitglieder am Bundesparteitag sowie ein wahrscheinlich zunehmender Finanzierungsbedarf für die Abhaltung der Bundesparteitage. Die ständige Mitgliederversammlung nach SäA041 erweist sich bei genauer Betrachtung als ungeeignet, diese Probleme zu lösen. __TODO__

Einleitung

Dieser Artikel soll klären, welche Probleme beim derzeitigen System der Präsenzparteitage auftreten. Er soll klären, ob eine "ständige Mitgliederversammlung" notwendig ist. Er soll untersuchen, ob eine ständige Mitgliederversammlung praktikabel ist, und er soll wenn möglich Alternativen aufzeigen. Dadurch sollem Anregungen in die Partei einfließen und die innerparteiliche Diskussion erweitert werden.

Diskussionen zu diesem Artikel bitte auf der Diskussionsseite führen.

Dieser Artikel entstand im Zeitraum vom 26.11.2012 bis zum xx.01.2013. Kann Spuren von Nüssen sowie Statistik enthalten.

Dieser Blogeintrag steht nicht isoliert. Er ist quasi die Fortsetzung meiner Kommentare hier sowie der im Anhang genannten Arbeiten, Artikel und Postings.

Außerdem beeinflussten meine (Vorlage:Twitter) Twitter-Diskussionen die Entstehung dieses Artikels. Folgende Teilnehmer diskutierten mit mir, weshalb ich diesen danken möchte: Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter und Vorlage:Twitter.

Wesentliche Anregungen stellten zudem Tweets von Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter, Vorlage:Twitter und anderen Teilnehmern dar. Die betreffenden Tweets sind in meiner Favoritenliste archiviert.

__REMOVEME__ __PREPAREDTWEET__ #Bongs #SMV und der Rest - Eine Analyse http://wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Tomtar/Entwuerfe/Schatzmeistererfahrungen/bongs2012_Nachlese/ - Danke an @00dng @tirsales @hb_join @C_Holler @heluecht @nlohmann @Street_Dogg

Fakten und Beobachtungen zum Bundesparteitag

  • Für den Bundesparteitag 2012.1 in Bochum ("bongs") wurden 657 Programmänderungs- und 68 Satzungsänderungsanträge eingereicht (Quelle). Auf dem zweitägigen Parteitag wurden 24 Programm- und 4 Satzungsänderungsanträge behandelt (Quelle). Somit wurden 3,6% der Programmanträge und 5,9% der Satzungsänderungsanträge überhaupt behandelt. Von diesen insgesamt 28 behandelten Anträgen wurden 23 angenommen. Damit finden sich von insgesamt 725 Anträgen nur 3,2% als Ergebnis in Programm oder Satzung wieder.
  • Die 725 Anträge hat sich sehr wahrscheinlich kein Mensch in der Zeit vom Einreichungsende bis zum Parteitagsbeginn (1 Monat) vollständig durchgelesen. Nimmt man das Motto "jeder Tag ein Antrag" ernst, dann hätte die Vorbereitungszeit allein 2 Jahre betragen müssen.
  • Durch GO-Anträge auf Änderung der Tagesordnung wurde von einzelnen Antragstellern versucht, Anträge die nicht auf der Tagesordnung standen zu behandeln. Dazu habe ich ja schon etwas geschrieben.
  • Bei 19652 stimmberechtigten Parteimitgliedern waren 2013 Mitglieder auf dem Parteitag akkreditiert. Das entspricht einer Teilnahmequote von 10,2%. (Quelle). Die Beteiligungsquote der einzelnen Länder lässt sich anschaulich wie folgt darstellen (Bild verändert nach: Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0):

500px

Rot: Länder, deren Verhältnis von akkreditierten Teilnehmern zu stimmberechtigten Teilnehmern unter dem Bundesdurchschnitt von 10,2% liefgt. Blau: Länder, die über dem Bundesdurchschnitt liegen.

  • Die höchste Beteiligung liegt zwar in dem Bundesland vor, in dem der BPT stattfindet. Doch große Entfernung scheint kein Garant für geringe Beteiligung zu sein: Die ostdeutschen Länder schneiden überdurchschnittlich gut in der Beteiligung ab. Wären Zeit- und Geldmangel klare Ausschlußgründe, so würde ich in den zu NRW benachbarten Ländern eine höhere Beteiligung erwarten als in den weiter entfernten Ländern. Dies ist in den vorliegenden Daten nicht zu erkennen. Also sind lange Anfahrtswege offenbar kein entscheidender Grund für eine geringe Beteiligung am BPT.
  • 89,8% der stimmberechtigten Mitglieder bleiben dennoch dem Bundesparteitag fern.
  • Bezüglich der Repräsentativität erkennt man bereits aus dem soeben diskutierten Bild, dass der Bundesparteitag nicht repräsentativ ist. Von 16 Bundesländern sind 3 deutlich überrepräsentiert, 1 liegt genau im Mittelwert und die restlichen Länder sind unterrepräsentiert.
  • Zwecks einer genaueren Analyse der Repräsentanz wird der Anteil auf dem BPT (Akkreditiere Mitglieder des Landes im Verhältnis zur gesamten Anzahl akkreditierte Mitglieder) und der Anteil im Bund (Stimmberechtigte Mitglieder des Landes im Verhältnis zur gesamten Anzahl stimmberechtigter Mitglieder) ermittelt. Die Rohdaten sind hier zu finden.
LV Anzahl Mitglieder Anzahl Stimmberechtigte Anzahl akkreditierte Mitglieder Anteil im Bund Anteil auf dem BPT Über-/Unterrepräsentation
BB 1118 451 46 2,29 2,29 -0,01
BE 3793 1805 234 9,18 11,62 2,44
BW 3783 1960 167 9,97 8,30 -1,68
BY 7024 3677 200 18,71 9,94 -8,78
HB 318 167 15 0,85 0,75 -0,10
HE 2060 1892 154 9,63 7,65 -1,98
HH 1192 828 41 4,21 2,04 -2,18
MV 497 259 24 1,32 1,19 -0,13
NI 2904 1453 110 7,39 5,46 -1,93
NW 6449 3902 709 19,86 35,22 15,37
RP 1189 923 92 4,70 4,57 -0,13
SH 1054 583 53 2,97 2,63 -0,33
SL 496 316 21 1,61 1,04 -0,56
SN 889 398 57 2,03 2,83 0,81
ST 687 441 35 2,24 1,74 -0,51
TH 679 528 51 2,69 2,53 -0,15
Sum: 34326 19652 2013 100,00 100

500px

  • Repräsentanz der Länder auf dem BPT 2012.2 (Bochum). Nur stimmberechtigte Mitglieder können am BPT aktiv teilnehmen. Deshalb wurde der Anteil der stimmberechtigten Mitglieder an der Gesamtzahl ermittelt. Anteil auf dem BPT: Akkreditiere Mitglieder des Landes im Verhältnis zur gesamten Anzahl akkreditierte Mitglieder. Anteil im Bund: Stimmberechtigte Mitglieder des Landes im Verhältnis zur gesamten Anzahl stimmberechtigter Mitglieder.
  • Auswertung: NRW ist stark überrepräsentiert, Bayern stark unterrepräsentiert. Berlin und Sachsen sind überrepräsentiert, das Berlin umschließende Brandenburg ist exakt repräsentiert. Der Effekt der starken Überrepräsentation in NRW ist in den unmittelbaren Nachbarländern von NRW nicht zu erkennen. Wäre die Beteiligung abhängig von Zeit- und Geldmangel, so wäre ein solcher Nachbarschaftseffekt allerdings zu erwarten, denn mit der Entfernung nehmen auch Fahrtzeit und Fahrtkosten zu. Um es an Beispielen zu verdeutlichen: Laut Google Maps beträgt die Entfernung zwischen Bochum und Berlin 517 km (mit dem Auto), zwischen Bochum und München 618 km. München als Großstadt liegt im Süden Bayerns, stellt also für viele Mitglieder schon eine maximale Entfernung dar. Wieso ist Bayern stark unterrepräsentiert (Differenz der Anteile BPT - Bund: -8,78%) und Berlin immerhin deutlich überrepräsentiert (Differenz der Anteile BPT - Bund: +2,44%)? Dieser starke Unterschied ist meiner Auffassung nach nicht allein durch die Entfernung zu erklären. Ein entfernungsabhängiger Effekt existiert, denn NRW ist stark überrepräsentiert. Dieser Entfernungseffekt ist außerhalb von NRW aber meiner Ansicht nach nicht mehr eindeutig festzumachen. Aus meiner Sicht verschwinden mit Ausnahme von NRW und Bayern alle anderen Länder in einer breiten statistischen Streuung. Daher ist fraglich, ob entfernungsabhängige Faktoren tatsächlich eine wesentliche Rolle spielen.

Welche Bedeutungen diese Beobachtungen unmittelbar haben

  • Der Anteil stimmberechtigter Mitglieder auf dem BPT in Bochum betrug 10,2%. Diese Beteiligungsquote ist für BPT-Verhältnisse überdurchschnittlich hoch. Die Beteiligung auf dem BPT 2012.1 betrug 5,2% (Quelle). Ähnlich hohe Beteiligungen der stimmberechtigten Mitglieder wie auf dem BPT 2012.2 hat es zuletzt mit 12,7% auf dem BPT 2008.1 gegeben (Quelle). Allerdings kann die Beteiligung auf einem Parteitag auch höher ausfallen: Auf der Mitgliederversammlung 2009.1 des LV Schleswig-Holstein am 26.07.2009 zum Beispiel waren 94 Piraten anwesend (Quelle) bei 220 Schleswig-Holsteinischen Mitgliedern insgesamt zu diesem Zeitpunkt (Quelle). Das macht eine Teilnehmerquote von 42,7%. Hohe Teilnehmerquoten sind also durchaus im Bereich des Möglichen. Daher ist die Frage, ob sich die Beteiligung am Bundesparteitag durch geeignete Maßnahmen steigern lässt, grundsätzlich berechtigt. Dabei bleibt die Frage, inwiefern sich diese Beteiligung auf Bundesverhältnisse übertragen lässt, zunächst offen.
  • Zur Frage der Repräsentanz: Der Bundesparteitag repräsentiert in seiner Zusammensetzung nicht die Zusammensetzung der stimmberechtigten Mitglieder. Dies ist offensichtlich. Beim Bundesparteitag der Piratenpartei handelt es sich allerdings um keinen Delegiertenparteitag, bei dem jeder Landesverband Delegierte entsprechend der Mitgliederzahl wählt. Am Bundesparteitag kann jeder stimmberechtigte Pirat teilnehmen. Daher ist eine auf die Mitglieder der Landesverbände bezogene Repräsentanz ohnehin nicht zu erwarten. Wollte man diese einführen, so müsste man Delegierte wählen und die freie Beteiligungsmöglichkeit jedes Mitgliedes abschaffen. Diese Abschaffung der direkten Beteiligungsmöglichkeit wäre notwendig, denn jeder nicht delegierte Teilnehmer verzerrt die Repräsentativität in Bezug auf die Landesverbände. Man kann auf einem Parteitag also entweder Basisdemokratie haben oder Repräsentativität, aber nicht beides. Will man die Möglichkeit der freien Teilnahme erhalten (Basisdemokratie im Teilnahmesinne), so ist also Repräsentativität keine Größe, die optimierungsfähig wäre.
  • Es ist fragwürdig, ob die Anzahl beschlossener Anträge eine zu optimierende Größe ist. Man könnte nämlich den Anteil beschlossener Anträge auf triviale Weise auf 100% bringen, indem man eine Abstimmung über die Annahme des gesamten Antragsbuches durchführt und mehr als 2/3 der Teilnehmer dieser Abstimmung zustimmen. Damit wären alle 725 Anträge automatisch angenommen und alle Antragsteller wären zufrieden. Oder? Das ist natürlich Unsinn. Eine erhöhte Anzahl angenommener Anträge bedeutet nicht, mehr Programm zu haben. Es bedeutet nur, dass der Programmtext länger wird. Die Anzahl Anträge sagt nichts über die Inhalte aus. Vielmehr muss begründet werden, welchen Wert die Anzahl angenommener Anträge für sich allein besitzt. Ist es wirklich besser, 50 Anträge anstelle von 25 Anträgen "quasi am Fließband" zu behandeln und anzunehmen, unabhängig vom Inhalt der Anträge?
  • Aufgrund der bereits dargestellten Teilnahmequoten der einzelnen Bundesländer scheinen lange Anfahrtswege kein alleiniges Ausschlußkriterium zu sein. Dies wird auch durch die Beobachtungen eines namentlich ungenannten Teilnehmers auf pastebin erhärtet: "Der LV Sachsen hat für seine Mitglieder einen Bus organisiert (€32,- statt €238,-). Wir haben für unsere Mitglieder eine kostenlose Sammelunterkunft gefunden (€0,- statt €140,-). Unsere Mitglieder haben sich halt Brote geschmiert und in die Halle getragen, statt sich auf das Catering zu verlassen (zumindest keine Mehrkosten)." [1]. Damit ist die Argumentation, zum Bundesparteitag erschienen ausschließlich jene, welche über viel Zeit und Geld verfügen, unplausibel. Es gibt sicherlich Mitglieder, die aus den genannten Gründen nicht erscheinen. Die vorliegenden Daten lassen ein systematisches Problem in der Partei aber nicht erkennen.
  • Nicht die Anzahl behandelter Anträge ist das Problem (die liegt, wie schon Patrick Breyer 2012 geschrieben hat, trotz der gestiegenen Teilnehmerzahl durchaus in der Größenordnung bisheriger Parteitage und der Delegiertenparteitage anderer Parteien), sondern die enorme Anzahl eingereichter Anträge. 725 Anträge sind in zwei Tagen nicht zu schaffen. Will man sie alle diskutieren und ausgewogene Entscheidungen treffen, dann reichen aber auch keine 365 Tage. Und zwar unabhängig davon, welche Mittel zur Entscheidungsfindung man einsetzt. Diskussionen brauchen Zeit. Man kann dafür sorgen, dass jeder Antrag eine (kleine) Chance hat, behandelt zu werden. Man kann aber nicht alle Anträge behandeln.
  • In Wirklichkeit ist der BPT 2012.2 derjenige Bundesparteitag nach Chemnitz mit der zweithöchsten Anzahl behandelter Anträge. In Bochum wurden zudem mehrere programmatische Lücken geschlossen, etwa in der Wirtschaftspolitik (PA091 und PA444).

Um die Anzahl behandelter Anträge zu ermitteln, habe ich die Protokolle und Antragsportale herangezogen. In jedem BPT-Protokoll habe ich die Anzahl GO-Anträge gezählt, und davon insgesondere die GO-Anträge auf Änderung der Tagesordnung.

Bundesparteitag   PäA eingereicht   SäA eingereicht  PäA behandelt  SäA behandelt
2012.2            657               68               24       4
2012.1            205               50               0       40
2011.2            370               64               14      6
2011.1            79                77               0       11
2010.2            245               29               71      0
2010.1            129              115               3       8
  • Vermutung: Je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Antrag behandelt wird, desto eher wird der Antragsteller bereit sein, über die Ausnutzung der Satzung seine Interessen zu verteidigen. Demnach sollte es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl gestellter GO-Anträge und der Anzahl eingebrachter Anträge geben.
Bundesparteitag   PäA eingereicht   PäA behandelt   GO-Anträge insg.    GO-Antr. Änd. TO
2012.2            657             24             69                13
2012.1            205             0             106               18
2011.2            370             14            130               24    
2011.1            79              0             53                4     
2010.2            245             71            120               21  
2010.1            129             3             140               23

Aus einem Datensatz mit nur 6 Elementen Trends herleiten zu wollen, insbesondere wenn nur 3 davon Programmparteitage sind, ist statistisch gesehen unsicher. Dennoch habe ich die vorliegenden Daten in Diagrammform gebracht:

BPT Analyse GOAntraege.jpg

BPT Analyse PäAs.jpg

Folgende Aussagen sind anhand der vorliegenden Daten sicherlich zulässig:

  • Die Anzahl eingereichter Programmanträge steigt tendentiell mit jedem neuen Parteitag
  • Die Anzahl behandelter Programmanträge nimmt nicht in demselben Maß zu wie die Anzahl eingereichter Programmanträge.
  • Die Anzahl der GO-Anträge auf den Parteitagen nimmt tendentiell ab.
  • GO-Anträge auf Änderung der Tagesordnung nehmen nur einen kleinen Teil der GO-Anträge ein. Außerdem nimmt ihre Zahl nicht in dem Maße zu, wie die Programmanträge zunehmen.
  • Damit ist -aus meiner Sicht- die Vermutung widerlegt, dass die GO-Schlachten an Intensität zunehmen.

Konsequenzen einer weiterhin ansteigenden Teilnehmerzahl am Bundesparteitag

  • Unabhängig davon, ob man die Teilnahme am Bundesparteitag gezielt fördert oder nicht, wird die absolute Anzahl an Teilnehmern am BPT aller Voraussicht nach weiterhin steigen (Quelle).
  • Damit stellt sich die Frage, ob die Kosten für die Ausrichtung eines BPT auch in Zukunft für die Partei noch tragbar sind.
  • Statistik:
BPT Datum Mitglieder gesamt Anwesende Mitglieder Netto-Miete für Halle laut Bewerbung Brutto-Gesamtkosten laut Bewerbung
BPT 2012.2 24. bis 25.11.2012 34277 2013 21.125,00 € 34.143,00 €
BPT 2012.1 28. bis 29.04.2012 28860 1491 19.397,00 € 37.504,82 €
BPT 2011.2 03. bis 04.12.2011 19027 1255 9.250,00 € 25.545,00 €
BPT 2011.1 14. bis 15.05.2011 113601 783 16.065,00 € 16.565,00 €
BPT 2010.2 20. bis 21.11.2010 12115 560 5.297,00 € 8.952,00€
BPT 2010.1 15. bis 16.05.2010 121562 1001 10.000,00 € 23.000,00 €

1: Mitgliederzahlen zum 14.05.2011 sind in den öffentlich zugänglichen Quellen (Wiki, Protokolle der Vorstandssitzungen) nicht zu finden. Zwecks näherungsweiser Bestimmung wurde der Mittelwert der Mitgliederzahlen vom 23.06.2011 und dem 31.12.2010 verwendet.
2: Mitgliederzahlen zum 15.05.2010 sind in den öffentlich zugänglichen Quellen (Wiki, Protokolle der Vorstandssitzungen) nicht zu finden. Zwecks näherungsweiser Bestimmung wurde der Mittelwert der Mitgliederzahlen vom 26.05.2010 und dem 15.04.2010 verwendet.

  • Nicht nur die Mitgliederzahlen nehmen zu, auch die Kosten für die Bundesparteitage nehmen tendentiell zu.
  • Anhand dieser Daten könnte man annehmen, dass die Kosten für Bundesparteitage sich mit einem Budget von ca. 50.000 € deckeln lassen. Vor einer solchen Annahme muss ich warnen. Wer sich die Mitgliederentwicklung der letzten Jahre ansieht, der erkennt dass es nach jeder Bundes- und Landtagswahl Eintrittswellen gegeben hat. 2013 findet eine Bundestagswahl statt. Obwohl die Umfragewerte derzeit nicht gut sind, ist es alles andere als ausgeschlossen, dass auch 2013 eine größere Zahl Neumitglieder in die Partei eintreten. Damit müsste auch die Planung für die nächsten Bundesparteitage nach oben hin korrigiert werden.

Beobachtungen, die demnach als problematisch einstufbar wären

  • Eine unrealistisch hohe und zudem ständig weiter steigende Anzahl eingereichter Anträge.
  • Eine eventuell ausbaufähige Beteiligung der stimmberechtigten Mitglieder am Bundesparteitag.
  • Ein wahrscheinlich zunehmender Finanzierungsbedarf für die Abhaltung der Bundesparteitage.

Politische Analyse des bisher bestehenden Systems der Parteitage

  • Parteitage (Mitgliederversammlungen) sind im Parteiengesetz, §§ 9+15 verankert.
    • Die Mitgliederversammlung ist das oberste Organ der Partei. Sie beschließt die Satzung, die Parteiprogramme, die Beitragsordnung, die Schiedsgerichtsordnung sowie über Auflösung und Verschmelzung der Partei.
    • Die Mitgliederversammlung wählt außerdem die Vorstandsmitglieder und die Mitglieder der übrigen Organe. Er nimmt den Tätigkeitsbericht des Vorstandes entgegen und faßt über ihn Beschluß. Der finanzielle Teil des Berichts wird durch zuvor von der Mitgliederversammlung gewählte Rechnungsprüfer überprüft.
    • Die Wahlen der Vorstandsmitglieder sind geheim. Bei den übrigen Wahlen kann offen abgestimmt werden, wenn sich auf Befragen kein Widerspruch erhebt.
    • Das Antragsrecht der Mitgliederversammlung muss so gestaltet sein, dass eine demokratische Willensbildung gewährleistet ist und auch Minderheiten ihre Vorschläge ausreichend zur Erörterung bringen können.
  • Für Delegiertenparteitage (in der Piratenpartei derzeit nicht realisiert) würden zusätzlich unter anderem folgende Bestimmungen gelten:
    • Durch die Satzung kann bestimmt werden, daß in den überörtlichen Verbänden an die Stelle der Mitgliederversammlung eine Vertreterversammlung tritt, deren Mitglieder für höchstens zwei Jahre durch Mitglieder- oder Vertreterversammlungen der nachgeordneten Verbände gewählt werden. (§8 PartG)
    • Die Zahl der Vertreter des Gebietsverbandes ist in erster Linie nach der Zahl der vertretenen Mitglieder zu bemessen. (§13 PartG)
    • Die Satzung kann bestimmen, daß die restliche Zahl der Vertreter, höchstens die Hälfte der Gesamtzahl, nach dem Verhältnis der im Bereich des Gebietsverbandes bei vorausgegangenen Wahlen zu Volksvertretungen erzielten Wählerstimmen auf die Gebietsverbände aufgeschlüsselt wird. (§13 PartG)
    • D.h. Delegiertenparteitage repräsentieren die nachgeordneten Gliederungen vom Landes- bis zum Ortsverband, wobei mindestens die Hälfte der Delegierten von den Mitgliedern der nachgeordneten Verbände gewählt werden müssen.

Wie funktioniert ein Parteitag der Piratenpartei derzeit?

Satzung §§ 4, 9b, 12(Quelle):

  • Die Ausübung des Stimmrechts ist nur möglich, wenn der Pirat Mitglied des Gebietsverbandes ist, seinen ersten Mitgliedsbeitrag nach Eintritt geleistet hat, sowie mit seinen Mitgliedsbeiträgen nicht mehr als drei Monate im Rückstand ist. Auf Parteitagen ist die Ausübung des Stimmrechts nur möglich, wenn alle Mitgliedsbeiträge entrichtet wurden.
  • Der Bundesparteitag tagt mindestens einmal jährlich.
  • Der Vorstand lädt jedes Mitglied per Textform (vorranging per E-Mail, nachrangig per Brief) mindestens 6 Wochen vorher ein.
  • Der Bundesparteitag, der Bundesvorstand und die Gründungsversammlung können durch Beschluss Gäste zulassen. Ein Stimmrecht haben die Gäste nicht.
  • Änderungen der Bundessatzung können nur von einem Bundesparteitag mit einer 2/3 Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen beschlossen werden.
  • Über einen Antrag auf Satzungsänderung auf einem Bundesparteitag kann nur abgestimmt werden, wenn er mindestens vier Wochen vor Beginn des Bundesparteitages beim Bundesvorstand eingegangen ist und dies im Wortlaut von fünf Piraten beantragt wurde.
  • Die Regelungen aus Absatz 1 und 2 gelten ebenso für eine Änderung des Programms der Piratenpartei Deutschland.
  • d.h. Änderungen des Programms können ebenfalls nur von einem Bundesparteitag mit einer 2/3 Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen beschlossen werden, auch hier müssen fünf Piraten den Antrag mindestens vier Wochen vor Beginn des Parteitages stellen.
  • Die Entscheidungen des Bundesparteitags werden mit einfacher Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen beschlossen. Bei Stimmengleichheit gilt ein Antrag als abgelehnt. Stimmenthaltungen werden als ungültige Stimmen gewertet. d.h. z.B. Vorstandsmitglieder werden mit einfacher Mehrheit gewählt.

Damit lässt sich das Parteitagssystem der Piratenpartei wie folgt zusammenfassen:

  • Stimmberechtigt ist, wer aufgenommen wurde und seinen Mitgliedsbeitrag gezahlt hat.
  • An alle Mitglieder werden Einladungen zum Parteitag geschickt
  • Jeder, der eingeladen wurde sowie Gäste und Presse darf am Parteitag teilnehmen
  • Nur die Stimmberechtigten Mitglieder erhalten Stimmkarten und haben damit Stimmrecht
  • Theoretisch ist der Parteitag damit eine Basisdemokratie.
  • Problem: Kämen tatsächlich alle stimmberechtigten Basismitglieder, so könnte man diese nicht unterbringen
  • Faktisch ist die Basisdemokratie beschränkt auf Mitglieder, die
    • stimmberechtigt sind
    • am Parteitag teilnehmen.

Unterschiede zu Delegiertensystem:

  • Wer stimmberechtigt ist und erscheint, der wird auch akkreditiert. Es gibt keinen Ausschluß vom Parteitag aufgrund eines fehlenden Delegiertenstatus. Das ist ein theoretischer und praktischer Unterschied zu einem echten Delegiertensystem, denn es muss niemand nachweisen, von seinem Gebietsverband entstandt worden zu sein.
  • Die Parteitagsteilnehmer sind nicht gewählt. Jeder Teilnehmer ist insofern, was seine Teilnahme am Parteitag anbelangt, Basis. Das ist ein theoretischer und praktischer Unterschied zu einem echten Delegiertensystem, denn ein Parteitagsteilnehmer ist in seiner Stimme keinen anderen Mitgliedern verpflichtet.

Um die Unterschiede zum Delegiertensystem und zu Liquid Feedback deutlicher zu machen:

  • Delegiertenversammlung: Mehrheitlich gewählte Delegierte kommen auf einem Delegiertenparteitag zusammen. Jeder dieser Delegierten hat genau eine Stimme, welche eine bestimmte Anzahl Mitglieder indirekt repräsentiert. Keine Stimmübertragung.
  • Basisdemokratie (idealisiert als Vollversammlung): Nicht gewählte Teilnehmer kommen auf einer Vollversammlung zusammen. Jeder Teilnehmer hat genau eine Stimme, diese repräsentiert keine anderen Mitglieder. Der Anteil nicht teilnehmender Mitglieder ist Null oder Nahe bei Null, und ein Teilnehmer repräsentiert keine abwesenden Mitglieder. Stimmen können auf die Teilnehmer nicht übertragen werden. Keine Stimmübertragung.
  • Piratenparteitag: Nicht gewählte Teilnehmer kommen auf einem Parteitag zusammen. Jeder Teilnehmer hat genau eine Stimme, diese repräsentiert keine anderen Mitglieder. Der Anteil nicht teilnehmender Mitglieder ist hoch, und ein Teilnehmer repräsentiert keine abwesenden Mitglieder. Stimmen können auf die Teilnehmer nicht übertragen werden. Keine Stimmübertragung.
  • Liquid Feedback: Nicht gewählte Teilnehmer erhalten Null, eine oder mehrere Stimmen übertragen. Jeder Teilnehmer hat zu seiner Stimme zusätzlich genau so viele Stimmen, wie ihm übertragen wurden (Mit Stimmübertragung). Teilnehmer, denen eine oder mehrere Stimmen übertragen wurden, werden Delegierte genannt.

Man erkennt: Delegiertenversammlung, Bundesparteitag und Liquid Feedback sind konzeptionell sehr verschieden. Auffällig ist aber: Der Bundesparteitag hat konzeptionell die größten Ähnlichkeiten mit einer Basisdemokratie. Allein die geringe Beteiligung unterscheidet ihn von einer "wirklichen" Basisdemokratie.

Daher halte ich es auch auf theoretischer Ebene für fragwürdig, die Teilnehmer eines Parteitages als Elite zu bezeichnen. Denn die Teilnehmer nehmen nur die jedem stimmberechtigten Mitglied zustehenden Rechte in Anspruch.

Um es mit den Worten eines alten Wikieintrages von 2007 zu sagen: "Die Basisdemokratie ist nicht in den Statuten der Piratenpartei verankert. Ihre Aspekte sind aber Bestandteil unserer Ideologie und Struktur: durch die angestrebte Offenheit und direkte Partizipationsmöglichkeiten soll Mündigkeit und Basisnähe gestärkt werden."

Weshalb das Wahlgeheimnis notwendig ist

Um den Sinn geheimer Wahlen einordnen zu können, ist etwas historische Perspektive hilfreich (Quelle):

Ursprünglich gab es weder in der attischen Demokratie (5. Jahrhundert v. Chr.) noch in der römischen Republik (509 v. Chr.-27 v. Chr.) geheime Wahlen. Alle Abstimmungen waren ursprünglich öffentlich. Seit 139 v. Chr. aber hatten die römischen Volkstribunen eine Reihe von Gesetzen erkämpft, die eine geheime Stimmabgabe des Volkes bei der Ämtervergabe und den Magistratswahlen vorsahen. Die nach seinem Urheber Gaius Coelius Caldus benannte, nach 107 v. Chr. erlassene lex Coelia (auch: leges tabellariae) sah nun auch die neue Abstimmungsform für Hochverrat vor. Die Bürger, die zur Abstimmung gerufen wurden, erhielten ein mit Wachs beschichtetes Täfelchen, auf das sie ihren Urteilsspruch schrieben. Diese Tafeln wurden in Urnen geworfen und später ausgezählt.

Der Aristokratie gefiel diese Änderung nicht. Noch zwei Generationen später ereiferte sich der aus dem Ritterstand stammende Politiker und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero: "Die Tafel verhüllt aber die Gesinnung des Herzens und gewährt so die Freiheit zu tun, was man will." Wie andere auch sah er darin die Gefahr einer fehlenden Kontrolle durch die Aristokraten, die nicht mehr sahen, ob ihre Klienten in ihrem Sinn abstimmten.

Ausschließlich offene Abstimmungen werden nun gerne mit dem Argument gefordert, dass so die Nachprüfbarkeit politischer Positionen gewährleistet ist und Wortbrecher erkannt werden können. Wobei mit "Wortbrecher" in der Regel Politiker gemeint sind. Seltsamerweise war der Aristokrat aus dem Ritterstand Cicero vor 2100 Jahren in der Abschaffung des Wahlgeheimnisses genau derselben Meinung. Auch wenn beide Seiten nicht denselben Wählerkeis meinen - der eine wollte die Kontrolle der Aristokraten über das Abstimmverhalten der einfachen Bürger behalten und lehnte deshalb geheime Abstimmungen ab, der andere will die Kontrolle des Volkes über das Abstimmverhalten der Politiker und lehnt deshalb geheime Abstimmungen ebenfalls ab. Geheime Abstimmungen sind somit ein zweischneidiges Schwert. Offene Abstimmung heißt in jedem Fall: Bei einer offenen Abstimmung ist jeder, der seine Stimme abgibt und der sich vorher irgendwem gegenüber in irgendeiner Form verpflichtet hat, von diesem kontrollierbar. Diese Verpflichtung kann eine politische sein, muss aber nicht. Im antiken Rom war es das Patronatswesen, bei dem der Klient oftmals aufgrund von Krediten, Schenkungen oder der Vertretung vor Gericht von seinem Patron abhängig war. Oftmals war ein Klient sogar von mehreren Patronen abhängig, dann entstand vor der Einführung der leges tabelleraiae für den Klienten bei der Stimmabgabe ein Interessenskonflikt.

Und um das antike Rom zu verlassen: In jeder größeren Ansammlung von Menschen, die regelmäßig zusammentritt oder sich gegenseitig intensiv austauscht, bilden sich zwangsläufig Beziehungen aus. Seien dies nun Freundschaften oder Partnerschaften, oder dass ganze Familien der Gruppe beitreten oder gar dass Arbeitgeber sich Praktikanten oder Mitarbeiter aus dieser Gruppe aussuchen. Für jeden dieser Fälle lassen sich Beispiele auch in der Piratenpartei finden. Zwar kann und sollte man verhindern, dass so etwas überhandnimmt. Diese Entstehung von Beziehungsgeflechten lässt sich aber faktisch nicht völlig verhindern. Entfernt man alle aus der Gruppe, die Teil solcher Netzwerke sind, so entstehen diese Netzwerke nach einiger Zeit neu. Dadurch, dass jeder irgendwo Teil eines solchen Netzwerkes ist, ist auch jeder potentiell anfällig, sich in seinen Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Also ist bei einem System von obligatorisch offenen Wahlen nicht nur jeder potentiell beeinflussbar, sondern von seinen Netzwerken auch hinsichtlich des Beeinflussungserfolges kontrollierbar.

Wie sieht so eine Beeinflussung aus? Wieso nimmt ein Mensch die Normen einer Gruppe an? In der Sozialpsychologie gibt es zwei wesentliche Formen von konformem Verhalten: Die private Akzeptanz (private conformity, informativer sozialer Einfluss) und die öffentliche Akzeptanz (public conformity, normativer sozialer Einfluss).

  • Private Akzeptanz bedeutet: Wer unsicher ist, was zu tun ist, der schaut sich um was die anderen tun. Die Verhaltensnorm der Gruppe wird also innerlich akzeptiert (Quelle Folie 21). Dabei gilt: Je unsicherer die Situation ist, und je größer die angenommene Tragweite einer Entscheidung ist, desto häufiger orientiert sich ein Teilnehmer nach dem Konsens der Gruppe und umso größer ist der informative soziale Einfluss (Quelle).
  • Öffentliche Akzeptanz bedeutet: Man orientiert sich am Verhalten der Gruppe, um nicht als Abweichler aufzufallen. Die Verhaltensnorm der Gruppe wird also innerlich nicht akzeptiert (Quelle Folie 25).

Nun werden offene Abstimmungen, wie schon erwähnt, mit dem Argument gefordert dass man dann Wortbrecher erkennen könne und dass so jeder dazu angehalten sei, zu seinem Wort zu stehen. Es wird also normativer sozialer Druck aufgebaut. Das bedeutet aber auch: Die Konformität wird zunehmen, wenn die Möglichkeit geheimer Wahlen ausgeschlossen wird. Zumal ja auch der informative soziale Druck steigt: Offene Abstimmungen ermöglichen die Orientierung am Verhalten anderer.

Geheime Abstimmungen allein auf ihre negative Seite zu beschränken, nämlich den möglichen Wortbruch eines Politikers, greift also zu kurz. Ich sage übrigens nicht, dass geheime Abstimmungen obligatorisch sein sollen. Mir geht es um etwas anderes: Ein Basismitglied, d.h. jemand der kein Amt, kein Mandat, keine Beauftragung (und keinen Delegiertenstatus, falls dieser einmal kommen sollte) hat, hat nirgendwo kandidiert. Mit seinem Eintritt in die Partei hat er oder sie sich allein verpflichtet, "die Zwecke der Piratenpartei Deutschland zu fördern und sich an der politischen und organisatorischen Arbeit der Piratenpartei Deutschland zu beteiligen" [2]. Die Zwecke der Piratenpartei werden durch das Grundsatzprogramm definiert. Also hat sich ein Basismitglied der Partei, wenn überhaupt, dann nur der Partei gegenüber verpflichtet, aber keinem Wähler gegenüber. Eine offene Abstimmung ist also hier nur dann zu rechtfertigen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Basispirat bei Abstimmungen gegen die Grundsätze der Partei verstößt. Also wenn Anträge gestellt werden, die erkennbar die Prinzipien der Partei verletzen. Das bedeutet aber, dass die Pflicht zur offenen Abstimmung vom Inhalt des jeweiligen Antrages abhängt. In den anderen Fällen haben die Mitglieder in jedem Fall das Recht auf einen Schutz vor Einflußnahme. Und bei Personenwahlen gilt dieser Schutz ohnehin.

Demgegenüber wird allerdings auch die Ansicht vertreten, dass aus dem jeden Parteimitglied zugestandenen Recht, direkt Einfluss auf bindende Entscheidungen zu nehmen, automatisch folgt, dass das Mitglied aufgrund seiner politischen Handlung zum Politiker wird, und sich deshalb der Transparenz bezüglich der politischen Handlung unterwerfen muss (siehe z.B. hier). Wörtlich: "Wenn wir weiterhin in unserer Partei den Anspruch haben, dass alle Parteimitglieder auf die Entscheidung direkt Einfluss nehmen dürfen, dann muss sich aber auch jedes Mitglied zumindest dort wo es von diesem Recht Gebrauch macht, etwa als stimmberechtigtes Mitglied eines Parteitags, der Transparenz unterwerfen und ist damit Politker.". Eigentlich besteht dieses Argument aus zwei Teilen: "Politiker ist, wer Mitglied einer Partei ist" und "Politiker ist, wer direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt". Das sind zunächst einmal zwei getrennte Definitionen, auch wenn man Parteimitgliedschaft sicher als Spezialfall einer Einflußnahme auf politische Entscheidungen ansehen kann. Die Transparenzpflicht wird nun aber eben nicht aus der Parteimitgliedschaft hergeleitet (diese Frage bleibt unbeantwortet), sondern aus der direkten Einflussnahme auf politische Entscheidungen, also aus der politischen Aktivität. Eine Person, die politisch aktiv ist ohne politische Ämter anzustreben wird aber im allgemeinen nicht Politiker genannt, sondern Aktivist. Demnach wäre auch jeder Aktivist, der unabhängig von einer Parteimitgliedschaft politisch aktiv ist, transparenzpflichtig. Diese Auffassung ist sicherlich vertretbar. Meiner Ansicht nach hilft dieser Ansatz aber nicht weiter, da er letztendlich für Nichtmitglieder Konsequenzen hätte. Konsequenzen, die bisher noch gar nicht diskutiert wurden.

Basismitglieder stets zu offenen Abstimmungen zu zwingen ist also in meinen Augen schlecht begründet. Daher muss es zumindest die Möglichkeit geben, auf Antrag geheime Abstimmungen durchführen zu können. Im Falle von Amts-, Mandats- und Beauftragungsträgern mag das anders aussehen. Hier wäre eine öffentliche Kontrolle grundsätzlich zu rechtfertigen. Allerdings gibt es derzeit kein System, welches eine getrennte Abstimmung von Basis und Vorständen zulässt. Bemühungen in diese Richtung kann ich bisher nicht erkennen. Also ist diese Vorgehensweise derzeit ohne praktische Relevanz.

Deshalb brauchen wir die Option auf geheime Abstimmungen über Programmanträge. Deshalb ist diese Option auch in den Geschäftsordnungen der Parteitage implementiert.

Kann das Wahlgeheimnis bei Internetwahlen eingehalten werden?

Bei einer Internetwahl bestehen folgende Probleme (Domgörgen 2007, S. 17 ff.):

  1. Ausspähen der Stimmabgabe durch andere Personen im Raum (Dieses Problem besteht auch bei der Briefwahl)
  2. Ausspähen der Stimmabgabe bei der Eingabe. Kryptografie löst dabei nicht das Problem der geheimen Wahl. Solange der Nutzer von einer nicht sicheren Plattform aus wählt, kann seine Wahlentscheidung noch vor der Verschlüsselung ausgespäht oder manipuliert werden. Denn kryptografische Verfahren gehen regelmäßig davon aus, dass der Nutzer über einen sicheren oder vertrauenswürdigen Rechner verfügt, der ihm seine Wahlentscheidung richtig anzeigt und diese dann unverfälscht und von außen nicht auslesbar an den Verschlüsselungsmechanismus übergibt.
  3. Ausspähen der Stimmabgabe auf dem Übertragungsweg. Selbst wenn die Stimmabgabe am Rechner unbeobachtet verläuft, könnte der Internetanbieter die verschlüsselten Daten abfangen und einzelnen Kunden zuordnen. Legt der ISP nur Kopien an und leitet die Originale weiter, ist weder für den Wähler noch für den Staat ein Eingriff nachvollziehbar. Zudem kann es vorkommen, dass die Kommunikation mit dem Wahlserver über Netzknoten geleitet wird, welche in undemokratischen Ländern stehen. Das Internet ist daher aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Datenübermittlung für die Übertragung von Wahldaten ein extrem unsicherer Kommunikationsweg. Wird die Stimme aber mit einem ausreichend starken asymmetrischen Schlüssel verschlüsselt, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Wahldaten zumindest kurzfristig auf dem Übertragungsweg nicht ausgespäht werden können.
  4. Ausspähen der Stimmabgabe auf dem Wahlserver.

Beispiele:

  • Ein Trojaner auf dem Rechner kann die Stimmentscheidung ausspähen. Dabei können die Daten vor der Verschlüsselung ausgelesen und/oder manipuliert werden, etwa durch ein Keylogger-Modul des Trojaners, welches alle Benutzereingaben abfängt. Der Trojaner könnte sogar Ausgaben an den Benutzer manipulieren und damit etwa eine Stimmabgabe vortäuschen, obwohl keine Daten versendet wurden.

Damit ist das Wahlgeheimnis bei einer Internetwahl prinzipiell nicht zu gewährleisten.

Bei "Liquid Feedback" wurde nun, wohl mit der Intention eine Ersatzlösung zu schaffen, die Möglichkeit der "pseudonymen Teilnahme" geschaffen (Jabbusch 2011, S. 54 ff.). Das pseudonyme System funktioniert so:

Der Generalsekretär (GenSek) einer Untergliederung nimmt en Aufnahmeantrag eines Neumitgliedes entgegen und speichert die Identität des Mitglieds in der Verwaltungssoftware. Hier sind persönliche Informationen wie Name, Wohnsitz und Mitgliedsnummer gespeichert. Dann fordert der GenSek von der Clearingstelle einen Schlüssel an. Dieser Schlüssel besteht aus einem "Einladungsschlüssel" und einem "Referenzschlüssel", die beide bei der Clearingstelle hinterlegt werden. Die Clearingstelle sendet nun den Einladungsschlüssel an den GenSek und den Referenzschlüssel an die LQFB-Administration. Der GenSek verschickt den Einladungsschlüssel an das Mitglied. Dieses gibt den Einladungsschlüssel auf der Seite der Clearingstelle ein, und die Clearingsstelle gibt dem Mitglied den zugehörigen Referenzschlüssel zurück. Mit diesem Referenzschlüssel kann sich das Mitglied nun am LQFB-System anmelden, wo der Referenzschlüssel mit dem im LQFB-System gespeicherten Referenzschlüsseln abgeglichen wird. Ergebnis: In der LQFB-Datenbank sind Pseudonym und Referenzschlüssel vorhanden, in der Verwaltungssoftware sind Identität und Einladungsschlüssel vorhanden. Die Clearingstelle wiederum ordnet in ihrer Datenbank die Einladungsschlüssel den Referenzschlüsseln zu. Auf diese Weise kennt keine der drei Stellen alleine alle Informationen. Dadurch, dass der Einladungsschlüssel nur einmalig in den Referenzschlüssel umgewandelt werden kann, soll zudem verhindert werden, dass der GenSek anstelle des Mitgliedes den Einladungsschlüssel unentdeckt nutzt.

Das Modell der Clearingstelle sieht vor, dass (Bundes-)Generalsekretär, Clearingstelle und Administration organisatorisch und personell unabhängig sind. Könnte etwa der Generalsekretär in Eigenregie die Mitglieder der Clearingstelle und die Administratoren ernennen, so wären diese nicht mehr unabhängig, und das Modell böte keinen Schutz mehr. Deshalb wäre eigentlich zu erwarten, dass der Bundesgeneralsekretär kein Mitspracherecht bei der Ernennung von Clearingstelle und Liquid Feedback-Administration besitzt. Dies ist jedoch nicht ganz der Fall: Clearingstelle und Liquid Feedback-Administration werden vom Vorstand durch Beauftragung ernannt. Der Bundesgeneralsekretär ist mit einer Stimme daran beteiligt. Zwar bestimmt der Generalsekretär nicht allein über die Zusammensetzung von Clearingstelle und Administration. Dem Bundesvorstand gehören derzeit 9 Personen an. Konkrete Hinweise auf eine Abhängigkeit der Clearingstelle vom Generalsekretär sind mir nicht bekannt. Jedoch könnte der Generalsekretär bei einer Abstimmung mit knappem Ausgang (4 gegen den Ernennungsantrag, 4 dafür) leicht das Zünglein an der Waage sein, und seine Stimme die entscheidende sein. Bei einem Bundesparteitag mit 2000 Teilnehmern hingegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet die Stimme des Generalsekretärs die ausschlaggebende ist, deutlich geringer - denn eine einzelne Stimme auf dem Bundesparteitag stellt nur 0,05% der Teilnehmer dar. Also ist bereits bei einer Mehrheit von 50,1% oder mehr nicht allein der Generalsekretär das Zünglein an der Waage, sondern noch mindestens ein weiterer Teilnehmer. Deshalb ist es politisch ungeschickt, sowohl Clearingstelle als auch Administration durch den Vorstand ernennen zu lassen. Zumindest die Clearingstelle sollte meiner Ansicht nach durch den Parteitag gewählt werden.

Die Pseudonyme dürfen nicht mit Anonymität verwechselt werden - in der FAQ zu Liquid Feedback wird explizit darauf hingewiesen, dass der hinter einem Pseudonym stehende Nutzer aufgedeckt werden kann (Quelle). Die Pseudonymisierung in Liquid Feedback kann etwa auf Basis eines Urteilsspruches eines ordentlichen Gerichtes oder aufgrund des Spruchs des Bundesschiedsgerichtes aufgehoben werden. Bei einer geheimen Wahl ist dies jedoch in keinem Fall möglich, auch nicht aufgrund eines Urteilsspruchs durch ein ordentliches Gericht. Deshalb ist die Pseudonymisierung in seiner Schutzwirkung gegen Beeinflussung eindeutig gegenüber einer anonymen Stimmabgabe unterlegen.

Daher wird auch bei Liquid Feedback das Wahlgeheimnis nicht gewährleistet.

Probleme, die nur bei Internetwahlen auftreten

Bei einer Internetwahl bestehen folgende weitergehende Probleme (Domgörgen 2007, S. 17 ff.):

  1. Bei Internetwahlen haben Angreifer mehrere Möglichkeiten, den Wähler an der Abgabe seiner Stimme zu hindern. Zum einen könnte der Kontakt zum Wahlserver gekappt werden, indem der ISP vom Netz getrennt wird oder die Datenkabel selbst beschädigt werden. Zum anderen existiert die Möglichkeit des Webspoofings, wodurch der gesamte Verkehr zwischen Wähler und Wahlserver umgelenkt werden könnte. Durch geschicktes Vortäuschen der Wahlumgebung könnte es dem Angreifer gelingen, dass dem Wähler nicht auffällt, dass er nicht mit der erwarteten Gegenstelle "spricht". Jedoch ist es mit technischen Mitteln relativ einfach zu garantieren, dass beide Partner mit dem richtigen Ansprechpartner kommunizieren. Nicht so leicht beheben lässt sich die Gefahr, die Übertragung von Daten über das Internet ganz zu sperren. Man könnte bestimmte Wählerschichten von der Wahl fernhalten, indem man ihre Wohnviertel systematisch für einige Stunden vom Netz trennt. In vielen Wahlexperimenten mit Internetwahlsystemen wählten große Teile des Elektorats innerhalb von wenigen Stunden, entweder zwischen acht und neun Uhr vor der Arbeit oder kurz nach der Arbeit. Wenn Hacker genau zu diesen Zeitpunkten das Netz lahmlegen, würde das Wahlergebnis gezielt manipuliert, indem bestimmte Wählergruppen nicht mehr ihre Stimme abgeben können. (Domgörgen 2007, S. 17 ff.) Während der Wahlserver durch ausreichende Redundanz vor einer verteilten DoS-Attacke geschützt werden kann (siehe aber hier), ist es technisch vergleichsweise einfach, eine große Anzahl von Rechnern, die nach demographischen Gesichtspunkten ausgewählt sein könnte, außer Gefecht zu setzen. (Domgörgen 2007, S. 87)
  2. Dem Wahlberechtigten drohen bei der Briefwahl nur Gefahren aus dem privaten Umfeld, während bei der Internetwahl ein Angreifer von jedem Knoten des Netzes aus auf seinen Rechner zugegreifen kann oder einfach direkt gegenüber dem Wahlserver eine falsche Identität vorgegaukelt. Auch wenn sich die Gefahrenlage sowohl bei der Briefwahl als auch bei der Internetwahl ähnelt, könnte bei einer großflächigen Einführung der Internetfernwahl das Problem der Identifikation von Wählern gefährliche Auswirkungen haben. Die Frage ist nur, wie wahrscheinlich solche Angriffe wirklich sind und welche Gegenstrategien ergriffen werden. (Domgörgen 2007, S. 60)

Der Lösungsvorschlag "Ständige Mitgliederversammlung" (SMV) gemäß Satzungsänderungsantrag SäA041

Wesentliche Passagen des Antrags (mit Worterläuterungen)

Die für mich relevanten Passagen des Antrages sind:

(3) Die ständige Mitgliederversammlung ist befugt, offizielle Aussagen der 
Piratenpartei in Form von Stellungnahmen und Positionspapieren zu entwickeln  
und zu beschließen. 

-snip-

(4) Aussagen der ständigen Mitgliederversammlung die direkt einem aktuell 
gültigen Wahl- oder Parteiprogramm widersprechen sind nichtig.

-snip-

(5) Alle stimmberechtigten Versammlungsmitglieder müssen die Möglichkeit 
haben, selbständig die Identitäten aller anderen Versammlungsmitglieder zu 
überprüfen. Um dies zu ermöglichen, werden folgende persönliche Informationen 
bei der Akkreditierung erhoben und den akkreditierten Versammlungsmitgliedern 
angezeigt bzw. gem. Abs. 6 auf Nachfrage zur Einsicht vorgelegt 

-snip-

(6) Die in Abs. 5 genannten persönlichen Informationen werden direkt im 
verwendeten Liquid-Democracy-System gespeichert und nur den angemeldeten 
Benutzern angezeigt.

-snip-

Es ist möglich, der elektronischen Speicherung und der versammlungsinternen 
Anzeige der persönlichen Daten zu widersprechen.
In diesem Fall werden stattdessen die in Abs. 5 genannten persönlichen 
Informationen und zusätzlich ein aktuelles Lichtbild in Papierform in der 
Bundesgeschäftsstelle der Piratenpartei unter Verschluss gehalten und gegen 
Vorlage der passenden Prüfsumme anderen stimmberechtigten Mitgliedern der 
Versammlung zur persönlichen Einsicht vorgelegt. 

-snip-

(1) Die Versammlung tagt ständig, öffentlich, dezentral und online nach den in 
§ 5 definierten Prinzipien der Liquid Democracy. 

-snip-

(2) Alle Entscheidungsprozesse werden öffentlich und transparent dokumentiert. 
Geheime Abstimmungen finden nicht statt.

-snip-

Die Beauftragten werden mit Unterstützung des zuständigen Vorstandsmitglieds

(...)

der ständigen Mitgliederversammlung eine eigene auf Version 2 basierende 
Instanz im bundesweiten LiquidFeedback System der Piratenpartei zur Verfügung 
stellen. 

-snip-

Normalverfahren: Zur Vorbereitung aller Beschlüsse der ständigen Mitgliederversammlung.
Bis 15 Tage Neu, 30 Tage Diskussion, 8 Tage Eingefroren, 15 Tage Abstimmung.
15% Quorum für Thema und Initiative. Mehrheit: >50%.

-snip-

Beschlussfassung: Zur Bestätigung bereits positiv abgestimmter Initiativen.
Bis 15 Tage Neu, 0 Tage Diskussion, 1 Tage Eingefroren, 15 Tage Abstimmung.
5% Quorum für Thema und Initiative. Mehrheit: >50%.

-snip-

Antrag auf Aussetzen der Beschlussfassung:
Bezieht sich auf eine bereits positiv abgestimmte Initiative. Falls dieser 
Antrag angenommen wird, wird die bestätigende zweite Abstimmung der Initiative 
nicht gestartet oder abgebrochen. Die Initiative kann dann zum Beispiel auf 
einem Parteitag in geheimer Abstimmung behandelt werden.
Bis 8 Tage Neu, 1 Tage Diskussion, 1 Tage Eingefroren, 8 Tage Abstimmung.
10% Quorum für Thema und Initiative. Mehrheit: >50%.

Was bedeutet "Neu", "Diskussion", "Eingefroren" und "Abstimmung"? Dies wird unter anderem in der Magisterarbeit von Sebastian Jabbusch (Jabbusch 2011, S. 58 ff.) erklärt: "In der Phase 'Neu' muss ein Thema innerhalb eines besetzten Zeitraumes mindestens 10 Prozent der angemeldeten Nutzer als 'Unterstützer' gewinnen (1.Quorum). Nur wenn das Thema dieses Quorum erreicht, springt es in die Phase 'Diskussion'. Dies ist als Schutz gegen Störer und sinnfreie oder populistische Vorschläge gedacht. In der langen 'Diskussionsphase' soll über die Initiative innerhalb und außerhalb der Plattform gestritten werden. Innerhalb der Plattform ist jedoch nur ein konstruktives Feedback in Form von 'Anregungen' und 'Gegeninitiativen' möglich. In der anschließenden Phase 'Eingefroren' können die Initiativen nicht mehr geändert werden. Diese Phase soll verhindern, dass die Antragsteller noch in den letzten Minuten vor der Abstimmung den Text ohne Kenntnis der Unterstützer vollständig ändern. (...) Zuletzt folgt die 'Abstimmung'. Um taktisches Wählen zu verhindern, werden keine Zwischenergebnisse eingeblendet."

Diskussion

Der Antrag ist eindeutig daraufhin ausgerichtet, Liquid Feedback als Tool einer ständigen Mitgliederversammlung einzusetzen. Zum einen ist das System der Phasen 'Neu'/'Diskussion'/'Eingefroren'/'Abstimmung' im gegenwärtigen Liquid Feedback-System implementiert, zum anderen wird Liquid Feedback als einzusetzendes Tool eindeutig erwähnt (SäA041 Antrag Teil 3 Punkt 2.). Damit ist der Antrag auf eine "ständige Mitgliederversammlung" untrennbar mit dem Einsatz von Liquid Feedback verbunden.

Wie läuft der Abstimmungsprozess in LQFB laut SäA041? Der Beschluß von offiziellen Positionspapieren läuft demnach in zwei Phasen ab: Dem Normalverfahren und der Beschlußfassung. Beim Normalverfahren müssen zuerst binnen 15 Tagen 15% der angemeldeten Benutzer das Thema unterstützen. Kommt diese Unterstützung zustande, so beginnt eine 30-tägige Diskussionsphase, in der Anregungen eingereicht und Gegenanträge gestellt werden können. Danach erfolgt eine Phase von 8 Tagen, in der der Antrag ruht, was wohl als "Abkühlphase" zu verstehen ist. Schließlich wird über einen Zeitraum von 15 Tagen über den Antrag abgestimmt. Wird der Antrag mehrheitlich angenommen, und wurde kein Antrag auf Aussetzen der Beschlussfassung gestellt, so folgt die zweite Abstimmphase. Zuerst müssen binnen 15 Tagen 5% der angemeldeten Benutzer das Thema unterstützen. Kommt diese Unterstützung zustande, so erfolgt unmittelbar im Anschluß eine Phase von 1 Tag, in der der Antrag ruht. Schließlich wird über einen Zeitraum von 15 Tagen über den Antrag abgestimmt.

Eine ausführliche Erläuterung des Verfahrenszweckes konnte ich nicht finden. Wahrscheinlicher Zweck dieses zweistufigen Verfahrens ist, dass eine zusätzliche Hürde für die Annahme von Anträgen geschaffen werden soll. Jedoch ist das Quorum der zweiten Abstimmungsphase (5%) niedriger als dasjenige der ersten Abstimmphase (15%), weshalb ich davon ausgehe, dass ein Antrag, der die erste Hürde genommen hat, in der Regel auch die zweite Hürde nehmen wird.

Von weitaus größerer Bedeutung ist jedoch aus meiner Sicht, dass laut SäA041 alle stimmberechtigten Versammlungsmitglieder die Möglichkeit erhalten, die Identitäten aller anderen Versammlungsmitglieder zu erfahren. Stimmberechtigt ist laut Antrag jeder Pirat, der sich für einen Zeitraum von 444 Tagen akkreditiert hat. Also wohl ein bedeutender Anteil aller überhaupt stimmberechtigter Mitglieder. Das bedeutet aber: Pseudonyme gibt es nur noch nach außen hin, also nur gegenüber Nichtmitgliedern. Mitglied der Piratenpartei zu werden ist einfach: Mitgliedsantrag ausdrucken, unterschreiben, 46 € Beitrag überweisen und fertig. Dann noch auf einem Parteitag erscheinen und sich dort die Akkreditierung für die SMV holen. Schon habe ich einen Zugang zur ständigen Mitgliederversammlung, und Zugang auf die Identiät potentiell sämtlicher Parteimitglieder. Hürden gibt es im Antrag keine. "Gegen Vorlage der passenden Prüfsumme" kann ich auch die Identität all jener Mitglieder ermitteln, die einer elektronischen Speicherung widersprochen haben. Der Antrag läuft also in der Realität auf die Abschaffung aller Pseudonyme heraus. Und er hebelt die Clearingstelle, die ja eigentlich geschaffen wurde um Pseudonym und Identiät zu trennen, völlig aus. Noch gravierender ist: Es gibt sicher Bestandsmitglieder im Liquid Feedback, die auf der Trennung von Pseudonym und Identität gegenüber anderen Mitgliedern bestehen. Der Antrag sieht nun aber die Depseudonymisierung aller Teilnehmern gegenüber den anderen Teilnehmern vor. Also besteht die Gefahr, dass mit diesem Antrag Teilnehmer gegen ihren Willen entpseudonymisiert werden.

Dass die Wahlen nicht geheim sind, versteht sich aus den genannten Gründen von selbst und steht auch so im Antrag: "Geheime Abstimmungen finden nicht statt.".

Eigentümlicherweise steht aber in demselben Antrag, indem "Geheime Abstimmungen finden nicht statt." steht, auch eine Aussage die sich als das Gegenteil davon interpretieren liesse: "Antrag auf Aussetzen der Beschlussfassung: Bezieht sich auf eine bereits positiv abgestimmte Initiative. Falls dieser Antrag angenommen wird, wird die bestätigende zweite Abstimmung der Initiative nicht gestartet oder abgebrochen. Die Initiative kann dann zum Beispiel auf einem Parteitag in geheimer Abstimmung behandelt werden.".

Dieser Widerspruch ist nicht hilfreich bei der Klärung der Frage, ob die Antragsteller jetzt die Möglichkeit geheimer Abstimmungen haben wollen oder ob sie diese nicht haben wollen. Das bedeutet aber auch: Ob es überhaupt die theoretische Möglichkeit gibt, beim Beschluß von Positionspapieren einen Antrag auf geheime Abstimmung zu stellen, ist anscheinend nicht einmal den Antragstellern selber ganz klar. Die Aussage ist zudem so vage formuliert, dass im Grunde völlig ungeklärt ist, wie ein Antrag, der ausgesetzt wurde, jetzt weiter behandelt werden sollte. Der Antrag schreibt nur davon, dass die Initiative zum Beispiel auf einem Parteitag behandelt werden könne. Im Prinzip könnte die Initiative dann aber auch gar nicht weiter behandelt werden - und für unbegrenzte Zeit liegenbleiben. Die Möglichkeit, eine Beschlussfassung auszusetzen, führt im SäA041 also in Wirklichkeit nirgendwo hin.

Dazu kommt noch: Die Möglichkeit einer geheimen Abstimmung "zum Beispiel" auf einem Parteitag eröffnet sich damit erst, wenn der Antrag in die SMV eingebracht, ein 10% Quorum erreicht hat und die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint. Also stimmt die Mehrheit darüber ab, ob ein Antrag auf geheime Wahl angenommen wird. Das widerspricht dem bisher auf Parteitagen angewandten (und in der Geschäftsordnung so geregelten) Verfahren, wonach ein Widerspruch gegen eine offene Abstimmung dann zu einer geheimen Abstimmung führt, wenn eine absolute Mindestanzahl von Piraten diesen Antrag unterstützen ("Ein GO-Antrag auf geheime Abstimmung ist angenommen, wenn mindestens 50 Piraten zustimmen."). Der Unterschied bei diesem Verfahren zu einer Zustimmung durch die Mehrheit besteht darin, dass hier eine Minderheit eine geheime Abstimmung gegen die Mehrheit durchsetzen kann und damit eventuell vorhandener Druck von den Abstimmenden genommen wird. Der Mehrheit der Stimmen diese Entscheidung zu überlassen widerspricht damit für mich dem Prinzip einer freien und geheimen Wahl.

Delegationen in Liquid Feedback sind -im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie- jederzeit wieder entzieh- bzw. neu verteilbar. Die Idee dahinter ist einfach: Habe ich den Eindruck, dass ein Delegierter nicht in meinem Sinne stimmt, so entziehe ich ihm die Stimme und über sie entweder selber aus oder ich gebe sie einem anderen ("Sollte das Vertrauen durch die Experten missbraucht werden, kann Ihnen die Delegation jederzeit entzogen werden. - Jabbusch, 2011 S. 104"). Das Problem ist: Laut (Jabbusch 2011, S. 162) besteht der Sinn von Delegationen ja gerade darin, "einerseits die eigene Expertise vollständig ins System einfließen zu lassen und andererseits mit Delegationen Macht, aus Zeitgründen, an vertrauenswürdige Dritte abzutreten." Das bedeutet aber: Die Delegierenden haben keine Zeit, das Thema in einem Umfang zu verfolgen, der ihnen eine ausreichende Beurteilung der Sachlage ermöglichte. Delegierende sind passive Teilnehmer. Daher erscheint es fraglich, ob die Delegierenden zum einen überhaupt wissen, was mit ihren Stimmen passiert. Zum anderen ercheint es fraglich, wie sie beurteilen können, ob der Delegierte tatsächlich in ihrem Sinn abgestimmt hat - denn per Definition kennt sich der Delegierende mit dem Thema nicht so aus und hat keine Zeit, sich einzuarbeiten. Deshalb halte ich die jederzeitige Entziehbarkeit von Delegationen für eine im Ansatz gute Idee, da es dessen Intention die Kontrolle der Delegierten ist. Es fehlt aber zu deren Wirksamkeit eine Möglichkeit, den Delegierenden eine einfache und zeitsparende Entscheidungsgrundlage an die Hand zu geben, mit der beurteilt werden kann, ob der Delegierte das Vertrauen des Delegierenden missbraucht hat.

Aufgrund dessen teile ich die Meinung nicht, eine ständige Mitgliederversammlung auf LQFB-Basis sei demokratietheoretisch besser begründet als ein Parteitag. Dieser Antrag weicht das Pseudonymsystem auf. Er bedeutet faktisch auf eine weitgehende Öffnung des Systems. Dami wächst meiner Meinung nach aber auch das Risiko der Beeinflussung jedes Teilnehmers (ob delegiert oder nicht) durch andere Mitglieder. Insbesondere kritisch aus meiner Sicht ist, dass das System auch jene Pseudonyme offenlegen würde, deren Besitzer auf Pseudonyme bestehen - und solche Teilnehmer gibt es, vgl. Jabbusch 2011, S. 159). Tatsächlich würden laut der Umfrage aus der Arbeit nur 47.2% der Befragten ihre Identität gegenüber jedermann offenlegen, während immerhin 23% der Teilnehmer ihre Identität gegenüber "ausgewählten Freunden" offengelegt haben. Ich bezweifle, dass mit "Ich habe mein Pseudonym gegenüber ausgewählten Freunden offen gelegt" die Offenlegung des Pseudonyms gegenüber allen aktiven LQFB-Teilnehmern gemeint ist - aber nichts anderes würde der Antrag SäA041 bedeuten.

Über Kettendelegationen ist ja schon viel geschrieben worden. Deshalb nur in Kürze: Jeder Benutzer hat die Möglichkeit, seine Stimme zu einer Initiative, einem Thema, einem Themenbereich oder auch global zu delegieren (einem Stellvertreter zu übertragen). Dazu fügt der Benutzer den Teilnehmer, an den er delegieren will, als Kontakt hinzu und legt dann auf der betreffenden (Initiative-/Themen-/Themenbereich/Global-)seite die Delegation an diesen Kontakt fest. Das Stimmgewicht der Person, an die delegiert wurde, erhöht sich damit für die betreffende Abstimmung um die betreffende Anzahl Delegationen. Grundidee ist es, dass der Benutzer sein Stimmrecht an jemanden überträgt, von dem der Benutzer glaubt, dass jener mit der Thematik vertraut ist und im Sinne des delegierenden Nutzers handeln würde. Delegationen können ihrerseits weiterdelegiert werden - mit der Delegation wird nämlich für die jeweilige Abstimmung das gesamte Stimmgewicht eines Benutzers weiterdelegiert. Es entstehen somit Delegationsketten, und der Benutzer am Ende der Delegationskette vereinigt sämtliche Stimmen der Kette auf sich. Dabei genügt es, wenn das letzte Glied der Kette eine einzige Delegation erhält, damit alle Stimmen (bisweilen Hunderte) bei diesem auflaufen. Auf diese Weise entstehen in LQFB "Topdelegierte" bzw. "Superdelegierte", und zwar nicht nur für eine konkrete Initiative sondern - über die Vergabe globaler Delegationen- auch Themenübergreifend. Diese Superdelegierten können eine Abstimmung im Extremfall vollständig dominieren. Ich will das hier weiter nicht kritisieren, das haben andere schon gemacht. Superdelegierte sind tatsächlich im Prinzip bereits im Konzept von Liquid Democracy angelegt. Die Frage ist daher nicht, ob sie existieren.

Für die Diskussion von Antrag SäA041 entscheidend ist für mich vielmehr: Eine ständige Mitgliederversammlung tagt ständig. Zwar wird zwischen der Veröffentlichung und dem Beginn der Abstimmungsphase ein gewisser Zeitraum gesetzt, und auch für die Abstimmung wird ein gewisser Zeitraum gesetzt. Damit hat ein Teilnehmer in der Theorie die Möglichkeit, seine Stimmabgabe zu einem Zeitpunkt abzugeben, zu dem er Zeit hat. Doch Anträge können jederzeit gestellt werden. Damit ist letztlich doch eine ständige Präsenz am System notwendig, denn Abstimmungsphasen finden jederzeit im System statt. Etwa einmal im Monat "seinen eigenen Bundesparteitag" zu machen hilft dabei auch nicht, denn Abstimmungsphasen laufen nach diesem Schema 15 Tage lang, und genau an diesem Tag könnte daher eine Abstimmungsphase gerade geendet haben und nach diesem Tag die nächste beginnen.

Um dieses Argument verständlich zu machen, will ich das Beschlußfassungsverfahren mal visualisieren. Ich nehme dabei an, dass jeden Tag ein Antrag ins System eingestellt wird.

Annahme: jeden Tag wird eine neue Initiative eingestellt.
N = Neu, D=Diskussion, E=Eingefroren, A=Abstimmung

Tag          1         2         3         4         5         6          7         8         9     
    12345678901234567890123456789012345678901234567890123456789012345678|9012345678901234567890123456789
Ini Normalverfahren______________________________________________________Beschlußverfahren______________
01  NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
02   NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
03    NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
04     NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
05      NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
(...)
18                   NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
(...)
22                       NNNNNNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDEEEEEEEEAAAAAAAAAAAAAAA|NNNNNNNNNNNNNNNEAAAAAAAAAAAAAAA
(...)

Mal angenommen, ich will bei den Anträgen mitstimmen, die An Tag 1 und an Tag 18 eingestellt wurden. Weiterhin angenommen, jemand wollte an einem einzigen Tag darüber abstimmen. Wann sollte derjenige abstimmen? Weder die Abstimmphasen aus dem Normalverfahren noch diejenigen aus dem Beschlußverfahren überlappen sich. Dasselbe Problem stellt sich bei den Anträgen, die an Tag 5 und an Tag 22 eingestellt wurden. Ich bin sicher, es finden sich noch mehr solcher Paare.

Da eine ständige Präsenz für eine vollwertige Teilnahme somit erforderlich ist, stellt sich die Frage, wer sich jeden Abend Zeit für die SMV nehmen kann. Gleich wie lang das Abstimmungsintervall ist, es wird sich nicht gewährleisten lassen, dass tatsächlich eine direkte Abstimmung bei allen Anträgen möglich ist, wenn man nicht jeden Tag präsent ist. Und da in einer SMV verbindliche Positionen beschlossen werden, wird sich in der Praxis niemand diesem System entziehen können. Also bleibt den meisten Teilnehmern nur die Möglichkeit der Delegation. Dann bedeutet das aber, dass der Fluß des Liquid Feedback nur eine Richtung kennt: Hin zu den Delegationen und weg von der direkten Abstimmung. Damit wird Liquid Feedback auf längere Sicht zu einem reinen Delegiertensystem erstarren, wobei die Delegierten nur noch jene sind, welche die Zeit dafür haben. Eventuell gelegentlich unterbrochen von Spuren direkter Abstimmung, wenn doch mal einer seine Delegation kurz unterbricht, aber im Großen und Ganzen ein vollendetes Delegiertensystem. Der Antrag bedeutet also nichts anderes als einen faktischen Delegationszwang.

Aufgrund dessen teile ich die Meinung nicht, eine ständige Mitgliederversammlung auf LQFB-Basis sei demokratietheoretisch besser begründet als eine Delegiertenversammlung. In der Konsequenz würde eine LQFB-basierte SMV auf eine Delegiertenversammlung hinauslaufen, mit dem zusätzlichen Nachteil, dass die Delegierten ihrem Delegiertenstatus nicht widersprechen können. Die Delegierten erhalten ihren Status nämlich automatisch, sobald sie eine Delegation bekommen. Ein LQFB-Delegierter kann seine Delegation also weder annehmen noch ablehnen, selbst wenn er kein Delegierter sein will (etwa weil er Delegationen prinzipiell ablehnt). Nun wird gerne damit argumentiert, dass eine Delegation eine Willenserklärung sei und man dies zu respektieren habe. Ich sehe hier aber einen möglichen Interessenskonflikt: Natürlich ist die Delegation eine Willenserklärung. Aber aus der fehlenden -weil unmöglichen- Einverständniserklärung des Delegierten kann man weder eine Annahme noch eine Ablehnung der Delegation konstruieren. Es wird also, obwohl sowohl Delegierender als auch Delegierter in LQFB theoretisch gleichberechtigt sind, eine Ungleichheit bezüglich der Abgabemöglichkeit von Willenserklärungen geschaffen. Ein Delegierter ist damit kein gleichberechtigter Teilnehmer im System mehr.

Ist dieser "Annahmezwang" tatsächlich in der Theorie von Liquid Democracy begründet, oder vielmehr eine Besonderheit von LQFB? Wir werden gleich sehen.

Im übrigen ist Liquid Feedback aus meiner Sicht keine vollwertige Implementierung von Liquid Democracy. Im Artikel "Die maßgeschneiderte Demokratie" von 2007 wird zwar eine Wahlfreiheit zwischen direkter Demokratie, repräsentativer Demokratie und einer Mischform gefordert ("die Freiheit hat, sich direkt, indirekt oder gar nicht an den politischen Entscheidungen zu beteiligen"). Es wird aber nicht gefordert, dass die Stimme an jeden beliebigen Teilnehmer übertragen werden kann, unabhängig davon ob sich dieser als Delegierter zur Verfügung stellen will oder nicht. Im Gegenteil ist von "Einzelperson oder Partei" sowie von "Stellvertretern" die Rede, an welche die Stimme übertragen werden kann. Damit weicht Liquid Feedback schon an zwei Stellen von Liquid Democracy ab: Zum einen ist es in Liquid Feedback nicht möglich, seine Stimme an Parteien (also Gruppen von Teilnehmern) zu delegieren, d.h. Liquid Feedback ist diesbezüglich weniger mächtig als Liquid Democracy. Zum anderen geht daraus für mich hervor, dass der Vertreter sich als Delegierter zur Verfügung stellen muss - denn man kann Menschen nicht zwingen, sich zu einer Gruppe zusammenzuschließen. Wie sollte das gehen? Vielmehr müssen sich die Teilnehmer als Gruppe präsentieren und zur Verfügung stellen. Also ist bei Liquid Democracy implizit die Annahme vorhanden, dass der Teilnehmer die Wahl zwischen direkter Beteiligung und dem sich zur "Wahl" stellenden Delegierten oder einer sich zur "Wahl" stellenden Partei hat. Darüber hinaus wird in dem Artikel unter anderem ein "umfassender Schutz der Grundrechte" als Rahmenbedingung für die Ausgestaltung gefordert. Beachte Art. 38 GG. Daraus leite ich ab, dass Wahlen auch in Liquid Democracy nach dem Prinzip der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl stattfinden müssten. Entweder das, oder wir definieren die Grundrechte um. Folgerung: Liquid Democracy fordert also eben keine totale Offenheit der Abstimmung.

Das Problem, dass die Grundrechte der Wählerbasis erhalten bleiben müssen, wird auch in einem älteren Artikel über Delegative Democracy (Ford 2002, S. 5)angesprochen: "To minimize the influence of social or peer pressures and the potential vulnerabilities to coercion, the actual votes of individuals are strictly private and anonymous, known only to the voters". Damit wird bestätigt, dass geheime Wahlen eigentlich Kernbestandteil von Delegative Democracy (bzw. auch Liquid Democracy) sein sollte. Das kann Liquid Feedback nicht leisten. Auch betont der Artikel die Entscheidungsfreiheit des Individuums, Delegierter sein zu wollen oder auch nicht: "The first and most fundamental choice any member makes in a delegative democracy is the choice between taking a primarily active or passive role. A member who chooses an active role by becoming a delegate is expected to make an effort to understand the overall structure and operation of the organisation, stay informed about the major issues the organisation is facing, be familiar with candidates for and holders of important offices, make rational and well-considered decisions and be willing zo communicate and interact regularly with individuals and other delegates.". Das berücksichtigt Liquid Feedback ebenfalls nicht. In Liquid Feedback ist dieser Schutz dieser Grundrechte, wie von mir schon erörtert, eben nicht umfassend gewährleistet.

Wie sieht es denn bei SäA041 mit der Lösung der Probleme

  • Eine unrealistisch hohe und zudem ständig weiter steigende Anzahl eingereichter Anträge.
  • Eine eventuell ausbaufähige Beteiligung der stimmberechtigten Mitglieder am Bundesparteitag.
  • Ein wahrscheinlich zunehmender Finanzierungsbedarf für die Abhaltung der Bundesparteitage.

aus? Um zu helfen, sollte die ständige Mitgliederversammlung wenigstens eines dieser Probleme lösen.


Kann Liquid Feedback die enorme Anzahl Anträge bewältigen? Ein Blick in die Statistik hilft (Jabbusch 2011, S. 99 ff.): Im Zeitraum vom 19.08.2010 bis zum 26.05.2011 wurden 726 Initiativen eingereicht. Davon erreichten 152 das erforderliche 10%-Quorum nicht. Von den 574 Initiativen, die das Quorum erreichten, wurden 393 Initiativen durch Stimmenmehrheit angenommen, 181 Initativen wurden abgelehnt. Über Liquid Feedback können somit mehrere 100 Initiativen im Jahr behandelt werden. Diese Aussage scheint sich auch für das Jahr 2012 zu bestätigen: Laut Niels Lohmann wurden bis zum 25.11.2012 über 1491 Initiativen abgestimmt (Quelle). Das bedeutet, dass Liquid Feedback eine Abstimmung von über 700 Anträgen durchaus bewältigen könnte. Liquid Feedback könnte also rein logistisch das erste Problem lösen. Diese Beobachtung lässt sich aus dem Entwurf von Liquid Feedback erklären: "In der langen „Diskussionsphase“ soll über die Initiative innerhalb und außerhalb der Plattform gestritten werden. Innerhalb der Plattform ist jedoch nur ein konstruktives Feedback in Form von „Anregungen“ und „Gegeninitiativen“ möglich" (Jabbusch 2011, S. 58) und "Bei der Konzeption entschieden sich die Entwickler dafür, die übliche „Pro-/Contra“ Debatte aus der Plattform vollständig auszugliedern. In den Endabstimmungen finden zwar „Ja-/Nein“-Entscheidungen über die Initiativen statt, die Debatte dazu soll jedoch außerhalb der Plattform stattfinden. Das System sieht lediglich die spezielle Möglichkeit von „konstruktiven Anträgen“ zur „Verbesserung“ der Anträge vor" (Jabbusch 2011, S. 60).

Liquid Feedback ist also kein Diskussionswerkzeug, sondern ein Antragsbildungs- und Abstimmungswerkzeug. Es wurde ausdrücklich mit dem Ziel entworfen, Initiativen nicht durch offene und sachbezogene Diskussionen herauszubilden, sondern durch die Einreichung von Initiativen, Anregungen und Gegenanträgen. Wobei es bei Anregungen allein dem Ersteller der ursprünglichen Initative überlassen bleibt, ob eine Anregung einfließt oder nicht. Dieses Verfahren ist effizient, weil auf plattforminterne Diskussionen verzichtet wird. Jede Pro/Kontra-Debatte darüber, ob die Teilnehmer einem Antrag zustimmen oder ihn ablehnen sollten, soll ausgelagert werden - und wird entsprechend auf "Mailinglisten, Twitter, Blogs, Podcast und Stammtische" geführt. Das bedeutet aber: Wenn ich zwecks umfassender Meinungsbildung für die bevorstehende Abstimmung Pro-Argumente zu einer Initiative lesen will, dann muss ich diese suchen. Wenn ich ausführlich informiert werden will, warum es Gegeninitiativen gibt und wieso ihn ihnen (nicht) zustimmen sollte, dann muss ich nach Kontra-Argumenten suchen. Außerdem werden Diskussionen parallel auf mehreren Kanälen geführt, was dazu führt dass Teilnehmer ohne gegenseitige Kenntnis voneinander am selben Thema arbeiten und unnötig Kräfte gebunden werden. Während Antragseinreichungen und Abstimmungen effizient organisiert sind, sind Diskussionen nun also überhaupt nicht organisiert. Als Argument für dieses Vorgehen wird angeführt, dass nur so konstruktives Arbeiten gewährleistet werden kann. Doch dass bei Liquid Feedback ausschließlich konstruktives Feedback möglich sei, bestreitet Markus Gerstel (Quelle): So sei es etwa jederzeit möglich, etwa sachfremde Initiativen in Themenbereiche einzustellen. Oder es werden Initiativen erstellt, die im Text etwas anderes fordern als in der Überschrift. Auch werden populistische Forderungen dadurch nicht verhindert (lt. Gerstel z.B.: "Nichtraucherschutz auf Balkonen in Mehrfamilienhäusern - natürlich per Volksentscheid"). Diese Probleme sind natürlich nicht auf Liquid Feedback beschränkt. Wie in jedem anderem System zur Einreichung von Anträgen ist auch hier ein Missbrauch über die eingereichten Anträge selber möglich. Doch Liquid Feedback verzichtet auf ein Hilfsmittel, welches potentiell geeignet wäre um möglichst vielen Teilnehmern die möglichen Vorteile und Probleme eines Antrages mitzuteilen - nämlich sachlich und öffentlich geführte Diskussionen. Der Versuch einer Versachlichung der Diskussionskultur wird in Liquid Feedback damit nicht einmal im Ansatz unternommen, stattdessen wird die Diskussion faktisch zum Problem anderer Leute erklärt. Die Notwendigkeit ausführlicher sachbezogener Diskussionen als Grundbestandteil einer Liquid Democracy wird übrigens von Horbank, 2011 betont (S. 15): "Im nächsten Schritt kommt es zum eigentlich wichtigsten Teil des politischen Prozesses, dem die Entscheidung legitimierenden politischen Diskurs. Diskurs muss ermöglicht werden. Er muss erschöpfend sein, also keine Wahrheiten in der Meinungsbildung außen vor lassen, aber auch gleichzeitig zielführend, ohne, wie in einfachen politischen Diskussionen in Foren häufig anzutreffen, die Diskussion auf die vielfache gegenseitige Nennung der immer wieder gleichen Argumente zu beschränken und den „Konsens“ allein dadurch zu erreichen, dass keiner mehr interessiert ist, am zerfahrenen Thema weiter zu diskutieren. Als Diskursmittel werden im Konzept die klassischen Tools in Form von Diskussionsforen, Kommentarläufen, Textgegenüberstellung und -kommentierung, gemeinsame Textausdifferenzierung (im Wiki-Prinzip), sowie knappe Meinungsscreenings (Kurzpositionierung größerer Gruppenstärke) und Umfragen und Abstimmungen angeboten. Möglich ist im Prinzip alles, was den Prozess voranbringt, fair ist und in der Lage, verschiedenartige Perspektiven auszudrücken. Wichtigste Anforderung hier ist die Transparenz des Prozesses. Es muss übersichtlich und möglichst schnell nachvollziehbar sein, was diskutiert wurde, wie der aktuelle Stand ist, welche Ausblicke und Ziele es gibt, wie die nächsten Schritte und Partizipationsmöglichkeiten aussehen und was sich seit dem letzten Diskussionsstand verändert hat. Und wiederum müssen die Partizipationsschwellen gering genug sein, um z.B. auch kleinere und schwächere Beiträge in der Flut (halb-)professioneller (Berufs-)Debattierer angemessen zur Geltung kommen zu lassen und gleichzeitig für das Thema unnütze oder sogar provozierende und beleidigende Teile aus dem Prozess zu entfernen, ohne Meinungen zu zensieren."

Demokratie wird im Übrigen nicht gemacht, weil sie effizient wäre. Beispiel Bundestagswahl: Bei 62 Millionen Wahlberechtigten sind ca. 630.000 Wahlhelfer im Einsatz und es entstehen Kosten in Höhe von ca. 62 Millionen € (Quelle). Was den Arbeitsaufwand und die Kosten anbelangt, sind Parlamentswahlen ein Verlustgeschäft. Warum macht man das? Weil Grundsätze wichtiger sind als Effizienz. In diesem Fall lautet der Grundsatz, möglichst jedem erwachsenen Menschen eine freie, unmittelbare, gleiche und geheime Teilnahme an der Wahl und damit am Willensbildungsprozess zu ermöglichen. Ähnliches sollte auch innerparteilich gelten. Wenn man mehr Effizienz nur bekommt, indem man auf Grundsätze wie z.B. das Wahlgeheimnis verzichtet, dann kann man sich die Demokratie gleich ganz einsparen. Deshalb bin zumindest ich bereit, ineffiziente verfahren beizubehalten, wenn sie die Grundrechte in vollem Umfang gewähren. Sollte sich ein Verfahren finden -online oder offline-, welches den Schutz der Grundrechte gewährleistet und dabei effizienter ist als das bestehende, so werde ich der Einführung zustimmen. Und sei es, dass dabei 40 Anträge behandelt werden können, wo zuvor nur 30 Anträge möglich waren.

Auch sehe ich nicht, wo Liquid Feedback bei den anderen beiden Problemen helfen könnte. Die ständige Mitgliederversammlung in Form von Liquid Feedback tritt ja ausdrücklich nicht an, um Bundesparteitage zu ersetzen. Damit verschwindet nicht deren (ohnehin gesetzlich gegebene) Notwendigkeit. Also ist die Beteiligung an den BPTs sowie die Finanzierung der BPTs Probleme, die völlig losgelöst um die SMV-Diskussion stattfinden.

Somit löst eine auf LQFB basierende ständige Mitgliederversammlung die genannten Probleme nicht.

Was würde passieren, sollte der Bundesparteitag den Antrag mit Zweidrittelmehrheit annehmen? Ich würde den Beschluß des Bundesparteitages akzeptieren. Ich kann und werde niemanden hindern, SMV einzusetzen. Ich werde aber keine eigenen Schritte zu einer Einführung einer SMV unternehmen. Und nutzen würde ich eine SMV, die auf dieser Grundlage zustande kommt, sehr wahrscheinlich auch nicht. Aus den soeben genannten Gründen.

Welche Alternativen es geben könnte

Zu lösen sind folgende Probleme:

  • Eine unrealistisch hohe und zudem ständig weiter steigende Anzahl eingereichter Anträge.
  • Eine eventuell ausbaufähige Beteiligung der stimmberechtigten Mitglieder am Bundesparteitag.
  • Ein wahrscheinlich zunehmender Finanzierungsbedarf für die Abhaltung der Bundesparteitage.

Wenigstens eines dieser Probleme muss gelöst werden, besser zwei davon. Idealerweise alle drei. Durch die Lösung eines der Probleme sollten idealerweise nicht die anderen Probleme verschärft werden, und wie bereits erwähnt sind gewisse demokratische Grundsätze einzuhalten.

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Delegiertenparteitage

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Möglichkeiten zur Verbesserung der Diskussionskultur

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Wie das Liquid Democracy-System verbessert werden könnte

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Bin ich ein fundamentaler Gegner von Liquid Democracy? Nein. Wer sich meine oben genannte Kritik näher ansieht, der wird feststellen: Ich kritisiere SäA041, und ich kritisiere Liquid Feedback. Das zugrundeliegende Prinzip, aus dem Liquid Feedback abgeleitet wurde, weist diese Kritikpunkte jedoch als Konzept grundsätzlich nicht auf. jedenfalls nicht wenn man davon ausgeht, dass Liquid Democracy ein generell gültiges Prinzip ist, unabhängig etwa davon, ob es online oder offline realisiert ist. Davon aufbauend müsste dann eine neue Form flüssiger Demokratie gefunden werden, welche praktisch realisierbar ist. Die Theorie erneut genau zu betrachten, könnte sich jedenfalls möglicherweise lohnen.

Ich sehe übrigens auch keine Probleme darin, Liquid Feedback als unverbindliches Tool zur Antragsentwicklung und für unverbindliche Umfragen einzusetzen.

Ich erkenne an, dass Liquid Democracy (und damit Delegationen) zum einen gefragt und zum anderen auch theoretisch als Ergänzung zur direkten innerparteilichen Demokratie begründbar sind. Nur muss man es "richtig" machen. Was verstehe ich unter "richtig"? xxx

Liquid Democracy ist xxx


Im wesntlichen haben wir dorch bisher erkannt:

  • Wahlen und Abstimmungen macht man am besten offline.
  • Informationen verbreiten sich am besten online, und diskutieren kann man online auch leidlich gut (wenn ein paar Grundregeln beachtet werden).

Also kann es nur um gegenseitige Ergänzung gehen.

Literatur