2010-07-30 - LiquidFeedback-Alternativen

Aus Piratenwiki Mirror
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Quelle: http://schmidtlepp.tumblr.com/post/879227397/alternativen-zu-liquid-feedback

Bitte den Artikel nicht löschen. Er sollte aus parteiinterner möglicher Relevanz heraus erhalten bleiben.

Alternativen zu Liquid Feedback

„Wus?“ wird sich das geneigte Leserli jetzt fragen, was sagt denn da Mr. LiquidFeedback™, eine Alternative zur Software, die basisdemokratische Entscheidungen innerhalb der Piratenpartei ermöglichen soll?! Was erlauben Lauer?!

Ganz genau, wir sind ja Piraten und deswegen anders©, deswegen begründen wir ja Dinge auch nicht damit, dass sie alternativlos sind. Es gibt immer eine Alternative, auch zu Basisdemokratie. Deswegen zeige ich diese Alternative gerne mal kurz auf, damit sich dann am Ende alle selbst entscheiden können, was sie möchten (Wobei der Parteitag ja bereits eine Entscheidung getroffen hat: Wir wollen LiquidFeedback).

Aber mal von vorne: Als Partei müssen wir uns die Frage stellen, wie wir die innerparteiliche Willensbildung so gestalten, dass am Ende in einem demokratischen Prozess eine legitimierte Aussage der Partei entsteht, die dann nach außen vertreten werden kann. Das nennt man gemeinhin Programm. Ein Programm ist daher das Destillat eines längeren Diskussionsprozesses in dem es oft hoch und heiß hergeht. Der Knackpunkt ist: Wer darf mitdiskutieren und wer denkt nur, dass er mitdiskutieren darf? D.h. an welcher Stelle werden die Forderungen gestellt und wo werden am Ende die tatsächlichen Entscheidungen getroffen?

Bisherige Parteien haben sich dafür entschieden, verschiedene Parteiorgane einzuführen, verschiedene Arbeitsgruppen und Gremien, die Dinge ausknuspern und am Ende zur Abstimmung stellen. Abgestimmt wird nicht von allen Mitgliedern der Partei, sondern von Delegierten. Diese sind demokratisch legitimiert durch ihre jeweilige Gebietsgliederung und haben somit die Verantwortung, den Willen® der Basis nach oben zu tragen. Dabei geht natürlich einiges schief. Konkret bedeutet das nämlich, dass man genug Leute um sich herum versammeln muss die einen als Person unterstützen, die möglicherweise die gleiche politische Auffassung haben, und ab gehts. Dabei werden nicht immer unbedingt die kompetentesten gewählt. Je höher die Hierarchieebene desto undurchsichtiger wird es, am Ende geht es nicht mehr darum wie ich mich mit denen stelle die unten sind, sondern wie ich mich mit denen gut stelle die oben sind, denn die sitzen meist am längeren Hebel. Sprich: Netzwerke und innerparteiliche Fraktionierung hebeln am Ende die Strukturen aus, die eigentlich ganz vernünftig sein könnten, wenn sich ein Delegierter tatsächlich davor fürchten müsste abgesägt zu werden, wenn er nicht auf die Basis hört.

Delegiertensystem, polemisches Symbolbild Nr.1: Sie haben es geschafft, 3000 Mitglieder der KP China auf dem Volkskongress (Nicht alle auf dem Bild). Während hier die Parteieliten walten und schalten, müssen 77.900.000 (Millionen) Parteifreunde leider draußen bleiben. (Quelle: Remko Tanis, Lizenz)

Dann ist da natürlich auch noch der soziale Druck als Delegierter, die Partei nicht gegen die Wand zu fahren. Da hat man z.B. sonen tollen Hecht wie Gerhard Schröder zum Kanzler und der erzählt einem dann auf dem Parteitag, dass die Agenda 2010 alternativlos ist. Dieses Jahr sehen wir, was sie gebracht hat. Alle kotzen ab, die SPD hat gefühlt die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und kräftig dabei mitgeholfen, den Sozialabbau in Deutschland voran zu treiben. Ich glaube kein SPD-Mitglied hätte 2004 auf einem Stammtisch die Frage „Sollen 2010 6,5 Millionen Deutsche für unter sechs Euro die arbeiten?“ mit „ja“ beantwortet. Trotzdem wurde eine Agenda 2010 ausgedacht (nicht von der Basis) und beschlossen. Die Delegierten hätten sich auf dem Parteitag hinstellen und sagen können: „Nein, das machen wir nicht, das trägt keiner mit, das tut diesem Land nicht gut.“ Nur wenige haben es tatsächlich gemacht und das Paket wurde durch die Parlamente gewunken. Die SPD hat ihre Quittung dafür bekommen, die Grünen haben Glück, dass sich scheinbar keiner daran erinnert, dass sie da auch mitgemacht haben.

Sprich: Wir alle sehen, wie wunderbar ein Delegiertensystem die Ideen und Vorstellungen der Basis berücksichtigt, wie sehr sich die einfachen Parteimitglieder darüber freuen. Not.

Und das ist auch ein Punkt in der ganzen Debatte um LiquidFeedback, der geflissentlich ignoriert wird: Wie soll denn die Piratenpartei aussehen, wie sollen denn demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse in ihr ablaufen, wenn wir nicht ein LiquidDemocracy-Tool wie LiquidFeedback benutzen?

Das einzige was mir im Moment einfällt ist das eben beschriebene Delegiertensystem und ich kann euch versichern, diejenigen, die jetzt am lautesten über LiquidFeedback abkotzen werden auch über ein Delegiertensystem abkotzen, denn sie werden in diesem noch weniger zu sagen haben als in LiquidFeedback. Delegiertensysteme sind keine Mailinglisten.

Delegiertensystem, polemisches Symbolbild Nr.2: Auch in den USA trifft man sich gerne, da heißt es nicht Parteitag sondern Convention. Hier also die National Convention der Republikanischen Partei, man entschied sich McCain und Palin für die Präsidentschaft zu nominieren, was die Delegierten später über diese Entscheidung dachten ist nicht überliefert. (Quelle: NewsHour, Lizenz)

Konkret, wie würde es aussehen? Rechnen wir mal grob mit einem Delegierten pro 250 angebrochene Mitglieder wäre die Aufteilung ungefähr wie folgt:


Baden-Württemberg 1427 Mitglieder = 6 Bayern 2650 Mitglieder = 11 Berlin 893 Mitglieder = 4 Brandenburg 339 Mitglieder = 2 Bremen 136 Mitglieder = 1 Hamburg 576 Mitglieder = 3 Hessen 845 Mitglieder = 4 Mecklenburg-Vorpommern 219 Mitglieder = 1 Niedersachsen 1003 Mitglieder = 5 Nordrhein-Westfalen 2438 Mitglieder = 10 Rheinland-Pfalz 501 Mitglieder = 3 Saarland 89 Mitglieder = 1 Sachsen 346 Mitglieder = 2 Sachsen-Anhalt 195 Mitglieder = 1 Schleswig-Holstein 380 Mitglieder = 2 Thüringen 187 Mitglieder = 1

Das wären 57 Delegierte.

So ein Parteitag würde uns auch extrem viel Geld sparen, wir würden dann einfach nen Raum mieten in den 100 Leute reinpassen und ab dafür. Achne, wir müssten wahrscheinlich den 57 Delegierten noch die Fahrtkosten und vielleicht sogar die Übernachtung bezahlen, dafür könnten wir aber auch länger als zwei Tage tagen, am Ende ist es wahrscheinlich genauso teuer wie ein Parteitag für 1000 Leute die einfach so kommen können.

Wer würde diesen 57 Delegierten zuarbeiten? Wahrscheinlich verschiedene Arbeitskreise und Arbeitsgruppen, aber da dort dann auch abgeliefert werden muss, also zu einem gewissen Zeitpunkt, wird diese Arbeit sicher auch anders strukturiert werden müssen als sie im Moment abläuft. Es würde wahrscheinlich durch eine durch den Bundesvorstand besetzte Programmkommission handeln, vielleicht müsste der Delegiertenparteitag da auch noch Mitglieder reinwählen, am Ende hätten wir aber eine Veranstaltung, in der wir ein zubetoniertes System mit klaren Hierarchien und Strukturen hätten, die am Ende ein Programm ausspuckt. Dann kann der einfache Pirat am Stammtisch von seinem Delegierten erfahren, was „die da oben“ grade so machen und sich gleich drüber aufregen, man braucht ja Feindbilder und so. Hätte aber auch den Vorteil, dass unsere Vorstandswahlen nicht mehr zehn Stunden dauern würden und wir der Presse schon vorher sagen könnten wer gewählt wird, es sei denn einer kommt auf die Idee einen Lafontaine zu pullen.

Das Lustigste an der ganzen Sache ist: So ein Delegiertensystem, sowie die ganzen anderen Gremien müssten von der Partei beschlossen werden. Das würde bedeuten, dass sich ca. 1000 Leute versammeln um zu beschließen, dass 943 von ihnen beim nächsten Mal nicht mehr dabei sind. Dieser Vorschlag wird wahrscheinlich ein noch besseres Ergebnis bekommen, als Bernd Schlömer bei seiner Wiederwahl zum Schatzmeister.

Delegiertensystem, polemisches Symbolbild Nr.3: Ausgelassen feiern die Teilnehmer des ersten Delegiertenkongresses der Piratenpartei Deutschland den vollen Erfolg der Veranstaltung. Dem heiteren Bundesvorstand C.Lauer (Mitte) wurde zum Dank ein kleines Krönchen aufgesetzt: Er schrieb vor Jahren den visionären Blogbeitrag, der diese schöne Veranstaltung begründete. (Quelle: Brabant Bekijken, Lizenz)

Daher frage ich mich, was sich die vehementen Kritiker von Liquid Feedback eigentlich vorstellen, wo wir hier sind, wie die Arbeit innerhalb dieser Partei, ohne ein Delegiertensystem und ohne eine Software, die valide basisdemokratische Abstimmungen erlaubt aussehen soll. Per Mailingliste? Augen zu und beten? Paul die Krake?

LiquidFeedback ist die einmalige Chance unserer Partei, um zu zeigen, dass die Demokratie und die Organisation einer politischen Partei wie sie heute ist, nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Wir haben die Möglichkeit uns selbst zu überlegen, wie wir die Partei gestalten wollen. Dazu müssen wir aber alle wissen, was innerhalb dieser Partei mehrheitsfähig ist und was nicht. LiquidFeedback ist hier tatsächlich meiner Meinung nach momentan die beste Möglichkeit dies zu tun.

Wie Fasel gestern so schön auf Twitter sagte: Ich habe vor dem Parteitag gesagt, dass vor der Einführung von LiquidFeedback auf Bundesebene noch mal gewaltig gestrampelt werden wird die es nicht haben wollen. Das passiert grade. Nur sagt man natürlich nicht „Ich find LF doof, weil dann kann ich nicht mehr auf der Mailingliste trollen“, man schreit „Datenschutz! Telemediengesetz! Verfassungswidrig!“. Das ist eine emotionale Form der Auseinandersetzung, die es sehr schwer macht sachlich darauf zu reagieren.

Wir haben einen Parteitagsbeschluss und ich interpretiere ihn so, dass die Partei das Experiment eingehen will. Jedes Mitglied kann sich entscheiden, ob es für sich das Experiment LiquidFeedback eingehen will, unter seinem Klarnamen, einem Pseudonym das jeder kennt, einem Pseudonym das keiner kennt.

Lasst uns das Experiment eingehen.

Tags: Piratenpartei LiquidFeedback Struktur Delegiertensystem Polemik